Azabu Yukimura – kriegt man Krebs

Mein Besuch im Azabu Yukimura beginnt mit einer Anekdote, die fast schon klischeehaft das an Heimlichkeit grenzende Understatement traditioneller japanischer Spitzenrestaurants beschreibt.

Als mich das Taxi irgendwo im Tokioter Stadtteil Roppongi Hills absetzt, stehe ich orientierungslos an einer großen Hauptstraße. Mein Hotel hatte die Koordinaten des ungenauen japanischen Adresssystems – also die tatsächliche Adresse des Restaurants – fein säuberlich auf ein Kärtchen notiert. Ich bin offiziell am Ziel. Aber eben noch längst nicht im Restaurant.

Das muss hier irgendwo im näheren Umreis sein, aber die Möglichkeiten sind zahlreich. Google Maps zeigt bzgl. des Restaurants vage auf eine Gruppe mehrstöckiger Wohngebäude. Ohne Smartphone wäre man hier aufgeschmissen.

Durch bloßes Raten grenze ich das Gebäude weiter ein, starre auf die Hieroglyphen an Briefkästen und Schildern. Schließlich treffe ich auf eine Dame, vermutlich eine Anwohnerin, die mit dem Restaurantnamen etwas anfangen kann. Kein Wunder, wenn man ein Drei-Sterne-Restaurant im Haus hat, könnte man meinen. Doch ich wäre mir bzgl. des Wissens der Bewohner um das Restaurant nicht so sicher.

Ein beklemmend kleiner Fahrstuhl transportiert mich langsam ins dritte Obergeschoss. An der verglasten Holztür, die ich gleich öffne, hängen getrocknete Gräser und eine Zitronatzitrone. Das Arrangement sieht ein wenig okkult aus. Ich muss schmunzeln, so skurril ist das hier.

Dann trete ich ein. Eine Mischung aus Neugier, Ehrfurcht und etwas Unsicherheit macht sich breit. Wie üblich in dieser fernen, fremden Welt.

Hinter dem Tresen hantieren Männer in weißen Kitteln und mit ernsthaftem Gesicht mit großen Krebsen und einem Grill. Um den sechseckigen Tresen herum sitzen fast ausschließlich Japaner, die mich kurz, vielleicht etwas überrascht, beäugen. In dieses Lokal verirren sich wohl eher wenige westliche Gäste ‒ der drei Michelin-Sterne zum Trotz.

Das Ambiente ist schlicht. Wände, Decke, Garderobe, Tresen und Stühle sind alle aus Holz, es ist recht warm, sogar etwas stickig. Der Guide Michelin beschreibt das Restaurant mit zwei schwarzen von fünf roten Bestecksymbolen, was für ein „komfortables“, aber weder besonders angenehmes, geschweige denn pompöses Restaurant steht. Der Mythos, dass Drei-Sterne-Restaurants luxuriös sein müssen, lässt sich hiermit wieder einmal gut entkräften.

Nach kurzer Zeit gelangt eine dekorativ zugebundene Abalone an meinen Platz. In der Muschel befindet sich ein Potpourri verschiedenster seltsam anmutender Zutaten. Glücklicherweise erhalte ich im selben Moment ein englisches, handschriftliches Menü, welches die Zutaten auflistet. An meinem Platz ist es so eng, dass ich das Menü auf meinen Schoß legen muss. Preise stehen dort nicht, das ist so üblich. Irgendwann vor Wochen, während meiner Reiseplanung, wird mir mein Hotel-Concierge, der die Reservierung getätigt hat, den Preis genannt haben. Es kommt, wie es kommt.

Die Zutaten in der Abalone repräsentieren das Sakizuke (先附), eine Menüfolge, die in der japanischen Kaiseki-Küche in etwa mit den französischen Amuse-bouches korrespondiert. Es gibt unterschiedlich zubereiteten Rogen von Hering, Kabeljau und Meeräsche; dann marinierte Fische und Gemüse wie Elritze, Tintenfisch, Abalone, Schwarzwurzel, eine Süßholzmasse und Sojabohnen. Welche der Zutaten ich jeweils verkoste, erschließt sich mir nicht immer. Ich mache in Summe ein sehr stimmiges Ensemble aus, in dem sowohl viele „raue“ Texturen zu finden sind als auch ein recht „fischiges“, aber keinesfalls extremes oder unangenehmes Geschmacksbild. Objektiv ist das sehr gut mit Ausrufezeichen, noch einmal essen müsste ich das dennoch nicht. (7,5/10)

Die zweite Menüfolge, Hassun (八寸), setzt den saisonalen Akzent. In dem zentralen Schälchen gibt es Fleisch von der Schneekrabbe mit Miso und einem mangoldähnlichen Kraut: frisch, kühl, umami, sehr schmackhaft. In einem weiteren Schälchen gibt es erneut Elritze (allerdings eine andere Gattung dieses Fischs), süßlich-säuerlich eingelegt und sehr zart. Ebenfalls gibt es ein Chawanmushi mit Seegurkenrogen, eine Zutat, die ich manchmal als Scherz nenne, wenn man mich in Restaurants in Deutschland nach eventuellen Abneigungen fragt. Doch in dem warmen Eierstich präsentiert sich die zähschleimige Zutat besser als ich sie in Erinnerung habe. Das kulinarische Erlebnis hier ist nicht allzu weit entfernt von einem weichen Frühstücksei mit Salz. Und wenn man mal darüber nachdenkt, sind Dinge, die aus dem Inneren eines Huhns kommen, nicht unbedingt appetitlicher als eine harmlose Seegurke. In einem anderen Schälchen gibt es weitere, gesalzene Innereien von der Seegurke, die eine ähnliche Konsistenz wie Tintenfisch aufweisen, getoppt mit einer Mischung aus Krebsfleisch und, abermals, Seegurkenrogen. Der hat offensichtlich Saison. Ein wenig später serviertes Tempura von Bambussprossen und weiterem Gemüse ist zart, warm, knusprig, wunderbar. Mit einem beherzten Schluck aus meinem Sakebecher beende ich diese ganz und gar hervorragende Menüfolge. (8/10)

Das Essen fährt fort mit einer Misosuppe mit Taro-Wurzel und Mochi, einem notorisch sehr kompliziert zu essenden Reiskuchen. Er ist sehr klebrig und mit den Stäbchen schwer in eine mundgerechte Form zu bringen. Eigentlich schiebt man ihn nur in Richtung Mund und beißt dann etwas von der kleisterartigen Masse ab, die dazu auch noch ungeheuer heiß ist, weil sie die Suppe aufsaugt und die Hitze speichert. Es ist eine handwerklich sehr gute Suppe dieser Kategorie, aber ich bin nicht der größte Fan dieser tennisballgroßen Kleisterkugeln. (7/10)

Während ich mich an der Suppe satt esse, bin ich Zeuge einer brutalen Routine, der Vorbereitung der Schneekrabben für die kommenden Gänge. Die majestätischen Tiere, die den Köchen trotz ihrer enormen Größe, monsterartigem Aussehen und furchteinflößenden Scheren chancenlos ausgeliefert sind, werden bei lebendigem Leib auseinandergerissen. Ein paar geübte Handgriffe reichen aus, um dem Tier die erste Hälfte der Beine auszureißen, weitere Handgriffe lassen dann nur noch einen ‒ immer noch lebendigen ‒ Torso übrig. Das ist nicht einfach anzusehen, aber so ist das nun mal hier. Gäbe es nur ein paar Japaner, die lebendige Krebse zerteilen, anstelle von Massentierhaltung, die Salamischeiben für Tiefkühlpizza produziert, wäre die Welt sicher ein besserer Ort.

Schneekrabbe ist zu dieser Jahreszeit die Spezialität im Yukimura. Die folgenden „Gänge“ thematisieren daher ausschließlich diesen Krebs in seiner pursten Form. Deswegen ist man hier.

Auf einem sehr einfachen Holzkohlegrill werden zunächst die Beine des Tiers gegrillt.

Auf dem Teller präsentiert sich ein solches Bein bereits so aufgeschnitten, dass man das Fleisch leicht mit den Stäbchen herauskratzen kann. Man genießt das Fleisch ‒ mit seiner milden Süße und spannenden Textur ‒ völlig pur.

Ein zweites Bein folgt. Selbes Spiel.

Ein drittes Bein ‒ inzwischen meistere ich das schon ganz gut ‒ schmeckt auch, eine Schere ebenso.

Dann folgt ein etwas üppigeres Stück vom Körper. Die Qualität des Krebsfleischs ist grandios. Diese Referenzqualität erfordert meine Höchstnote für ganz pur servierte Zutaten. (8/10)

Für Abwechslung sorgt ein kleiner Becher mit kühlen Soba (japanische Buchweizennudeln), pikantem Rettich und Miso. (7/10)

Ein weiteres Gericht mit dem Thema Schneekrabbe ist eine äußerst üppige Portion des Krebsfleischs, vermengt mit Reis und einer Sauce aus den Innereien des Tiers. Salzig, herzhaft, frisch, sehr schmackhaft und ausgewogen. (7,5/10)

Es folgt eine heiße Suppe mit leichtem Dashi, darin ein Stück Daikon sowie eine Handvoll dünn geschnittener Ringe Frühlingslauch aus Kyoto. Der Topf duftet ausgiebig nach diesem offenbar speziellen Lauch, das blumige und pfeffrig-pikante Aromen von sich preisgibt. Das ist eine typisch japanische Spitzenzutat: scheinbar trivial, aber wahrhaftig eine Offenbarung. Diese weitere Menge an Essen ist anspruchsvoll, doch im Wesentlichen besteht diese herausragende Suppe mit ihren klaren, fantastischen Aromen überwiegend aus Wasser. (8/10)

Gohan (御飯), das Reisgericht der Menüfolge, kommt mit Adzukibohne, Tofu und eingelegtem Gemüse. Eigentlich ist eine ganze Schüssel Reis das Letzte, an das ich jetzt noch denke, aber wie üblich schaffe ich auch diese. Die Zubereitung schmeckt eher neutral, dennoch löffle ich sie bis zum letzten Korn aus. (6,9/10)

Das Dessert ist eine sehr gute Erdbeere mit „Mascarpone-Blanc-manger“ und gehobelten Kaffeebohnen. Fast schon Französisch. (7/10)

Die Rechnung ist saftig. Auf dem Zettel stehen 50.000 Yen, 40.000 davon (ca. € 315) allein fürs Menü. Zu Trinken hatte ich nur etwas Sake und Wasser. Der Menüpreis ist bei der Menge an Schneekrabbe nicht verwunderlich, von denen eine einzelne bereits im Einkauf so viel kosten kann. Man kann hier noch deutlich ärmer herausspazieren - auf dem WC stehen ein paar leere Flaschen Romanée-Conti.

Das Erlebnis im Yukimura ging unter die Haut. Das schlichte Ambiente; die Gäste, von denen die meisten allein wegen der exquisiten Zutaten hier sind; die traditionelle Zubereitung; all das war tief beeindruckend. Die saisonale Küche in japanischen Restaurants ist mit einem einzigen Besuch nie vollständig zu beurteilen. Aber wer Seegurkeninnereien und Schneekrabbe zur besten Saison und in feinsten Qualitäten verkosten möchte, war heute Abend im Yukimura bei der besten Adresse.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Azabu Yukimura
Chef de Cuisine: Jun Yukimura
Ort: Tokio, Japan
Datum dieses Besuchs: 16.01.2019
Guide Michelin (Tokyo 2019): ***
Meine Bewertung dieses Essens 7,5 (Was bedeutet das?)
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