100/200 Kitchen – Wasser, Salz und Sterne

Ich verfolge die kulinarische Entwicklung von Thomas Imbusch nun seit acht Jahren. Im geheimnisvollen Madame X im Off Club weckte der damals 26-jährige Küchenchef die fast gänzlich eingeschlafene Hamburger Gastro-Szene auf, die zu der Zeit zwischen den Kronleuchtertempeln an Elbe und Alster und den Szenerestaurants für Möchtegerns so gut wie nichts zu bieten hatte. Aus reiner Eigennützigkeit hatte ich mir schon gewünscht, dass Imbusch in der Stadt bleibt.

Er blieb und hat längst sein eigenes Restaurant, das 100/200 Kitchen. Ich war viel öfter dort, als es mein einziger Artikel hier im Blog aus dem Jahr 2018 widerspiegelt. In der Zeit hat sich dort viel getan, gleichzeitig ist vieles konstant geblieben.

Eine Konstante des gastronomischen Erlebnisses ist die – für Hamburg – angenehme Andersartigkeit des Restaurants, die sich in dem Streben nach Weltläufigkeit widerspiegelt. Das beginnt bei der Platzierung des Restaurants in einem Industrieviertel, setzt sich fort über das Ticketsystem für Reservierungen und mündet in der Präsentation der abendlichen Zutaten in einem Schaukasten zu einem Glas »Schaumwein«, wie man es hier gerne etwas unprätentiös, aber mit falscher Bescheidenheit, ausdrückt. Denn eigentlich gibt es hier immer exzellenten Winzerchampagner. Die gastronomische Weltläufigkeit endet meist etwas abrupt, weil oft wechselndes (Lehr-)personal ein bisschen Unsicherheit vermittelt. Das ist natürlich nicht bloß verzeihlich, sondern auch Konzept, denn die so genannte »Brandherd Akademie«, Imbuschs Ausbildungskonzept, ist integraler Bestandteil des 100/200.

Die großen Vorbilder sind offenkundig. Sie heißen Saison oder Frantzén, und auch, wenn die »Liga« noch eine andere ist, haben Thomas Imbusch und seine Partnerin Sophie Lehmann der Hansestadt mit dem 100/200 eine »gastronomische Internationalität« eingehaucht, die man dort nie kannte.

Gerade wurde das Restaurant mit einem zweiten Michelin-Stern ausgezeichnet. Der ist noch so warm wie das exzellente Sauerteigbrot, das man zu Beginn eines Menüs hier zusammen mit Frischkäse, Chili- und Rosmarinöl bekommt.

Kulinarisch ist das Restaurant in keine Schublade zu stecken. Imbusch kocht mit den Jahreszeiten, es gibt saisonale Menüs mit den Namen »Wasser & Salz«, »Feuer & Rauch« oder »Feld & Flur«. Meist werden ganze Tiere verarbeitet, unaufdringlich für den Gast, aber respektvoll vor dem Tier. Gewissenhaftes, ehrliches Handwerk steht im Vordergrund von Imbuschs Küche, die lieber mit 100 und 200 Grad arbeitet als mit 63,5. Für die Gäste ist alles einsehbar; die auf einem Sockel platzierte Küche mit Molteni-Herd ist das Herzstück des Restaurants.

Der erste Michelin-Stern kam schnell und folgerichtig. Die immer exzellenten Produkte von persönlich bekannten Erzeugern aus der Region ergaben zusammen mit Imbuschs französisch fundiertem Handwerk eine Küche, die immer schon »anders« war als die seiner Kollegen in Hamburg und darüber hinaus. Mutiger, spezieller, wahrhaftig kreativ, ambitioniert, authentisch, oft auch aneckend und kontrovers. Das verwundert nicht, schließlich sollte das Restaurant ursprünglich mal »stets extrem« heißen. Es war eine kluge Entscheidung, davon abzuweichen, denn provozieren will Imbusch gar nicht mehr so oft.

Das war mal anders. Hin und wieder versteckte sich das mögliche Potenzial der Küche hinter Extremen, die man schon fast Imbuschs Stil zuschreiben konnte. Viel Fett, viel Säure, viel Masse – das passte manchmal nicht zu eigentlich viel feiner ersonnenen Gerichten, die die Authentizität ihrer Hauptzutaten immer im Mittelpunkt haben. Ich war manchmal etwas ratlos, in welche Richtung das gehen könnte und habe darüber auch mit Imbusch selbst viele inspirierende Gespräche bei der einen oder anderen Flasche Wein geführt. Apropos, die kompakte Weinkarte im 100/200 folgt zwar keinem besonders gängigen Aufbau, aber man kommt hier sogar als Burgund-Liebhaber auf seine Kosten, und das sticht schon mal alle eventuellen Defizite.

Anfang des Jahres probierte ich das aktuelle Menü »Wasser & Salz« (€ 144). Imbusch hatte dort nun genau an den Stellen justiert, die vorher »zu viel« waren. Als wäre damit ein Knoten geplatzt, kam damit das gesamte Potenzial der Küche zum Vorschein.

Imbusch präsentiert zunächst fünf Petitessen, die jeweils eine Grundgeschmacksrichtung ansprechen. Ein Löffelgericht mit Zwiebel, Sahne und Fett schmeckt leicht und süß, eine Kreation mit Sellerie appetitanregend säuerlich, Kohl mit Olive dann beherzt salzig, Rettich mit Kakao bitter, und eine Brühe aus geräuchertem Deichkäse mit Kombu steht für umami. Und selbst der wissenschaftlich gerade diskutierte sechste Grundgeschmack »fettig« wäre damit schon vorsorglich abgehakt. Das ist ein äußerst durchdachtes »Warmmachen« der Geschmacksnerven. (7,5/10)

Es folgt dann ein Gericht mit Knieper, norddeutsch für Taschenkrebs. Der Teller ist ungewöhnlich für Imbusch, der gerne kompakte, dichte, »süffige« Teller serviert. Das hier präsentierte kulinarische Puzzle ist jedoch clever umgesetzt. (Und gerade die vielleicht nicht hundertprozent akkuraten »Kleckse« zeugen davon, dass es hier nicht um einen optischen Anricht-Schwindel geht, sondern um etwas kulinarisch Durchdachtes.) Die verschiedenen Komponenten – neben dem gezupften Krebsfleisch unter anderem geräucherte Quitte, Grünblattalge und eine Vinaigrette aus Tagetes und Estragon – erlauben vielfältige und differenzierte aromatische Kombinationsmöglichkeiten, bei denen Fehltritte ausgeschlossen sind. Man schmeckt die Frische vom Krebs, verschiedene maritime Aromen, etwas Bitterkeit und fruchtige Säure. Dass man hier dem Gast die Justierung von Menge und Komplexität überlässt, ist ein erster Hinweis auf neue Wege. (7,5/10)

Eine qualitativ exzellente Auster, die mit Gurke, Marzipan und pikantem fermentiertem Pfeffer kombiniert ist, lässt noch Spuren von Imbuschs Extremen erkennen, aber die Pointen sind wohldosiert und der scharfe, maritime Nachgeschmack ist fesselnd. (7,9/10)

Der »Liebesknochen« mit knusprigem, buttrigem Gebäck, das von der Textur und Form an einen Éclair erinnert, ist mit dicken Scheiben Knochenmark und Kaviar gefüllt. Geräucherter Quark und Schnittlauchöl liefern dazu etwas Frische. Die üppige Kreation wurde hier schon mehrfach optimiert, und in ihrer aktuellen Portionsgröße ist es die bisher beste Version. Der Biss in den herzhaften Éclair mit luxuriösem Schmelz ist ein Hochgenuss. (7,9/10)

Drei Schälchen bieten beim nächsten Gang unterschiedliche Erlebnisse zum übergeordneten Thema Krustentier. In einem versilberten, kühlen Cocktailglas gibt es ausgelösten Kaisergranat, fast roh, mit verschiedenen bitteren Kräutern, frittiertem Grünkohl, alles leicht säuerlich angemacht, aber im Wesentlichen sich selbst überlassen. Das Ergebnis ist ein überraschendes, heiteres Potpourri zwischen nussiger Süße des Krustentiers und einer Art »Estragon-Kerbel-Frische«. Zusammen mit dem erdigeren Kohl und der Bitterkeit der Blätter wirkt der Krustentiersalat geheimnisvoll und komplex. Besonders die Naturbelassenheit der Zutaten beeindruckt immens; es gibt kein zusammenhaltendes Element außer Authentizität. Ein auf Dashi basierendes Süppchen mit Abschnitten von Hummer, dazu Alge und Schnittlauch, ist dicht, heiß und bietet verdichteten Genuss wie ein japanisches Süppchen am Ende eines Kaiseki-Menüs; eine Tartelette mit gehobelter Kastanie schmeckt dazu irgendwie »nach Chips«, undefinierbar, aber kurzweilig. Das wirkt lange nach, weil es so einzigartig ist. (8,5/10)

Es gibt danach noch Seeteufel als fingerdicke Tranche in einer Sherry-Beurre-Blanc mit Estragonöl, Haselnüssen und Vogelbeere. Zu dem qualitativ makellosen, saftigen Fisch bietet die buttrige Sauce »Imbusch’sche Üppigkeit«, erneut, ohne zu übertreiben; eine Art Brioche mit Fischfarce bietet dazu noch einmal bodenständigeren Genuss. Die scheinbare Einfachheit des Gangs ist gleichzeitig seine Stärke. Man ist danach glücklich und satt. (Aber eben nicht so satt, wie es vor Längerem hier noch der Fall gewesen wäre.) (7,5/10)

Es passt sogar noch der Klassiker mit in Butter gebratenem Toast, Deichkäse und Champignons, den Imbusch ebenfalls etwas »komprimiert« hat. Die erdige Frische des Pilzes im Kontrast zu Käse und knusprigem Toast macht vor den Desserts noch einmal unkompliziert glücklich. (7,9/10)

Ein Dessert mit Vanille-Kefir, geräucherter Blaubeere, Kaviar, einer Vanille-Schokolade-Ganache und Algen in unterschiedlicher Form – zum Beispiel getrocknet, was diese wie weißen Trüffel schmecken lässt – ist eine Kreation mit einem frappierend gelungenen Spiel zwischen Süße und Salzigkeit und damit eine perfekte Brücke zwischen Herzhaftem und Süßem. Die maritimen Bestandteile sind dabei keinesfalls bloß eine forcierte Durchsetzung des Themas »Wasser & Salz«, vielmehr bieten sie überraschend passende Akzente in der hauptsächlich von der intensiven Schokoladen-Ganache und dem dezenten, aber präsenten Vanillearoma getragenen Komposition. Die Küche bittet damit an dieser Stelle noch einmal um ihre volle Aufmerksamkeit. Das ist richtig inspirierend. (8/10)

Auch die Patisserie trumpft hier regelmäßig auf; die klassisch französisch fundierten und leidenschaftlich umgesetzten Kreationen von Mario Michaelis sind mindestens stadtweit schon legendär. Eine Brioche mit Vanille-Chantilly verzehrt man zum Schluss noch genauso genüsslich wie die Macarons, die man gerne auch für den nächsten Morgen mitgibt. (Beides 8/10)

Es gibt auch Abende, an denen etwas mehr »Späne« fällt. Oder an denen es etwas zünftiger zugeht – zum Beispiel, wenn man das mit Imbusch so ausmacht, oder grundsätzlich in der neu geschaffenen »Galerie«, in der man über dem Speisesaal thront.

Gerade erst war zum Beispiel eine ganze Seezunge mein einziges Gericht. Sie war im Ofen gegart, und ihre großen Filets wurden einfach an der Gräte serviert. Dazu gab es, ganz puristisch, aber sehr fein abgeschmeckt, eine Sauce mit Olivenöl und einem wundervollen Kräuter-Potpourri, das einen unmittelbar ans Mittelmeer transportierte. (7/10)

Gerichte wie diese untermauern nicht allein das neu attestierte Niveau, aber sie demonstrieren die Grundlagen des Handwerks hier ohne Umwege und zum größten Vergnügen des Essers.

Imbuschs Kreativität und die Produkte, die täglich variieren können (z. B. wegen anderer Schnitte eines ganzen Tiers oder schlicht wegen unterschiedlicher Lieferungen aufgrund des tagesaktuellen Angebots der Zulieferer), lassen einen hier immer Neues entdecken. Das lässt Erinnerungen an die täglich neu erfundene Küche von Pascal Barbot aus dem Pariser Astrance zu. Dort ging es zuletzt zwar von drei auf zwei Sterne hinab und hier im 100/200 nun von einem auf zwei hinauf – aber Imbusch kann sich nun in einem Atemzug mit solchen Größen nennen. Ganz zu Recht.

Informationen zu diesen Besuchen
Restaurant: 100/200 Kitchen (→ Website)
Chef de Cuisine: Thomas Imbusch
Ort: Hamburg, Deutschland
Datum dieser Besuche: 07.01.2022, 09.03.2022 (nur Seezunge)
Guide Michelin (D 2021): *
Guide Michelin (D 2022): **
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