Villa Crespi – man glaubt es selbst kaum

Die Bestellung am Nachmittag auf der Terrasse ist eigentlich schon ein Vorbote. Ein Salat mit verdorrten Außenblättern eines Kopfsalats, des Landesverrats würdigen Kirschtomaten sowie einem Wasser nicht ganz unähnlichen Dressing ist eine genauso groteske Zumutung wie ein trockener Käse-Schinken-Toast mit hartem Rand und geschmacklosem Aufschnitt. Schade, es hat ja nur hundert Minuten gedauert, die Bestellung zu liefern – trotz mehrfachen, zuletzt energischen, Nachfragens. Jetzt ist es auch schon fast fünf Uhr, bis zum Abendessen schaffe ich es dann auch noch mit meinem Appetit.

Immerhin kommt meine Weinbestellung schon nach einer Dreiviertelstunde, ein 2020er Chablis 1er Cru »Monts Mains« von der Domaine François Raveneau, der mit 250 € auf der Karte steht, später aber mit 650 € abgerechnet wird. Für die ganzen Fauxpas werde ich natürlich nicht aufkommen, aber für ein Haus mit vierstelligen Zimmerpreisen, palastartiger Architektur und Relais & Châteaux-Mitgliedschaft ist das ein armseliger Auftakt. Hinzu kommt, dass Salat und Toast aus einer – offenbar völlig überforderten – Küche stammen, die seit etwas über einem halben Jahr mit sagenhaften drei Michelin-Sternen ausgezeichnet ist. Voll im Griff hat Inhaber, Küchenchef und TV-Promi Antonino Cannavacciuolo dafür den Smalltalk und die Fotos mit einigen, meist weiblichen, Tagesgästen des Restaurants.

Mit neuer Hoffnung und gereiftem Appetit betrete ich am Abend dann das Restaurant. Mit Erleichterung stelle ich fest, dass sich mein Tisch in dem langen, schmalen Bereich vor der Fensterfront befindet und nicht in einem der fensterlosen, dunklen Säle dahinter. Auch gut: Ich kann die Klimaanlage von hier aus per Hand regulieren, wenn niemand guckt. Man kann sie sehr kalt und sehr laut stellen – oder aus, um dann schnell wieder ins Schwitzen zu gelangen.

Ich sehe das alles gelassen und setze mit meiner Weinbestellung, einem 1997er Barbaresco von Angelo Gaja (450 €) – immerhin ist man hier im Piemont – auf einen schönen Abend. Ein Rest des Chablis ist auch noch da.

Der freundliche Service legt die Speisekarten auf den Tisch und erläutert das Konzept. Es gibt zwei Menüs mit unterschiedlichen Themen zu 260 € bzw. 290 € sowie eine A-la-carte-Auswahl. Nach einigem Abwägen entscheide ich mich für letztere Option.

Unabhängig davon werden die Amuse-Bouches aufgetischt. Sie sehen nicht allzu penibel gearbeitet aus. Optisch unattraktiv sind für mich auf Anhieb ein Snack mit einer grünen Creme aus der Sprühflasche und ein weiterer Snack mit lustlos anmutendem, magerem Schinken.

Am Gaumen verhält sich alles wie folgt. Ein leicht knuspriges Stück Brot mit Tomate und Basilikum schmeckt wie eine anständige Bruschetta (6,9/10), ein filigranes Teigröllchen mit Schmorfleisch und Parmesan wie ein gutes Ragú (7/10); das schwarze Teigkissen mit tatsächlich sehr dürftigem Schinken schmeckt käsig (6,5/10), die grüne Gorgonzola-Creme ebenfalls (6,9/10), und ein Macaron mit Foie Gras und Blattgold ist viel zu süß, um gut zu sein (6,5/10). Keine bemerkenswerte Zutat, kein passioniertes Handwerk, banale Geschmacksbilder: Das hat mit dem Start in ein dreifach besterntes Menü nichts zu tun.

Auch dem nächsten Gruß aus der Küche sieht man an, dass es schon ein Wunder bräuchte, damit er schiere Begeisterung auslöst. Drei quaderförmige Stücke Forelle sind hier in einem Sud mit Zitrusfrüchten angerichtet, dazu gibt es ein knuspriges Stück Forellenhaut sowie Cremetupfen von Karotte und Sellerie. Der Fisch ist gehaltvoll und von guter Qualität, der Sud betont sauer und etwas schroff, an Tannine erinnernd. Das ist durchaus spannend, und zusammen mit dem üppigen Fisch ergibt das ein sehr gutes, aber auch nichtssagendes Gericht – auf einem Niveau wie bei irgendeinem ambitionierten Nachbarschaftsrestaurant. (7/10)

Das erste von mir ausgewählte Gericht ist ein Teller mit Schnecken aus der Region (60 €). Diese sind auf einem Schaum von weißen Rüben und Knoblauch mit einer grünen Kräutersauce angerichtet. Man hat hier im Wesentlichen die bissfesten, würzigen Schnecken, dazu viel knoblauchbetonten Schaum in einer nur lauwarmen Komposition. Die geringe Temperatur und die artifizielle Textur des Schaums ziehen das Niveau dieses nicht schlechten, aber in jeder Hinsicht unspektakulären Tellers am deutlichsten nach unten. (6,9/10)

Ebenfalls auf dem Tisch stehen in Butter sautierte Froschschenkel (70 €), die mit einer separat servierten Koblauch-Chantilly und einem mit Tomate gefüllten Wildreisgebäck serviert werden. Die Frösche sind saftig und gut gewürzt, die Sauce dazu ist wohlschmeckend und warm. Das ist sehr einfach und sehr gut; so etwas wünscht man sich in einem guten Bistro. (7/10)

Ich probiere danach zwei Pastagerichte. Vor allem handwerklich zieht das Niveau nun deutlich an. Linguine mit Tintenfisch und Roggenbrot-Sauce (70 €) sind kompakt, dicht, italienisch bissfest gekocht und in einer sehr viskosen Sauce angerichtet, die weniger aromatisch ist als man es erhofft. Wenngleich dieser Effekt auch durch andere Faktoren zustande kommen kann (z. B. durch gelatinösen Fischfond), erinnert das sehr an eine mit Texturgebern wie Xanthan abgebundene Sauce. Die Tintenfischchen dazu sind gut, aber auch keine Offenbarung. Alles in allem handelt es sich dennoch um eindrucksvolles Pastahandwerk. (Das Gericht begegnet mir in fast identischer Form am nächsten Tag im zwanglosen Restaurant des Schwesterhotels Laqua by the Lake für 29 €.) (7/10)

Noch besser sind Safran-Spaghetti mit Seeigel und Quinoa (70 €). Die Angabe »Seeigel« ist dabei etwas irreführend, da sie nur in der Sauce verarbeitet wurden, ein orangebraunes Elixier, dessen jodig-medizinisches Aroma den Platz erfüllt. Die Nudeln sind heiß, bissfest und sämig und verlieren auch über die Zeit nichts von diesen wünschenswerten Attributen. Die Sauce ist mit ihrer Kombination von herbem Safran und maritimem Seeigel sehr intensiv, aber auch sehr gut. Mit dazu serviertem frischem Seeigel hätte man das Gericht noch etwas aufwerten können. Dennoch ist das insgesamt hervorragend und die Spaghetti handwerklich mit die besten, die ich je probiert habe. (8,5/10)

Der Hauptgang ist dann geschmorte Lammschulter (140 € für zwei Personen), die am Tisch tranchiert wird. Der Vorgang macht einen routinierten Eindruck, daher verwundert es, dass die gesamte Haut der Keule nur auf einen der beiden Teller platziert wird. Dort wirkt allein die Größe des Hautlappens schon etwas unappetitlich; man muss sie dann im Ganzen vom Fleisch nehmen und zur Seite legen.

Das Fleisch selbst ist letztlich von hervorragender Qualität – saftig, aromatisch und gehaltvoll –, die Sauce dazu ist ein sehr guter Lammjus mit etwas weihnachtlich schmeckenden Gewürzen. Leider ist der Teller nicht heiß und das Fleisch durch den längeren Tranchiervorgang nur noch lauwarm. Die riesige Menge ist auch kaum zu bewältigen – und als ich dazu noch die Gemüse probiere, möchte ich irgendwann auch gar nicht mehr. Weißer Spargel, Kartoffeln, Zuckerschoten, Paprika, Erbsen und Artischockenherzen sind hoffnungslos zerkocht, matschig, ohne Biss und Verve. Ihr Aroma ist das von gewöhnlicher Supermarktware. Es ist kaum zu glauben, dass man hier in einem frisch gekürten Drei-Sterne-Restaurant sitzt. Ich lege irgendwann mein Besteck zusammen und erläutere dem Service die offenkundigen Probleme, die sich im Wesentlichen »nur« auf die zerkochten Gemüse, die Temperatur und die schiere Menge beziehen. Für die Bewertung mit drei Sternen kann hier schließlich niemand etwas. (6,9/10)

Immerhin wird noch überraschend ein Ersatzgericht aufgetischt und einschließlich des Lamms von der Rechnung genommen. Ein Teller mit Kalbsbries (normalerweise 70 €), diesmal auch heiß, kommt mit einem Pilzjus und winzigen Cremetupfen, die nach Minze und Tomate schmecken. Das Bries ist qualitativ einwandfrei, der Jus zwischen salzig und umami gut ausbalanciert. Eine knusprigere Garung würde dem Bries aber noch zu etwas mehr Spannung verhelfen. Das ist objektiv sehr gut, aber ebenfalls kein Gericht für die Ewigkeit. (7/10)

Bei einer so geringen Küchenleistung ist mir nicht nach einem Dessert. Die Petits-fours, die auch noch folgen, nehme ich gleich noch auf der Terrasse ein. Sie sind alle sehr mäßig. (6,5/10)

Glücklicherweise ist noch etwas von dem grandiosen Barbaresco in der Flasche.

Zurück auf dem Zimmer hat der Abendservice etwas Nachtlektüre hinterlassen, die »Villa Crespi Daily News«, ein im Zeitungsstil gestaltetes A4-Blatt mit einigen Informationen über das Haus und den Ort. Ein Abschnitt widmet sich dem Hotelrestaurant: »Our 2 star Michelin Restaurant«. Dass es inzwischen sogar drei sind, glaubt man hier wohl selbst kaum.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Villa Crespi (→ Website)
Chef de Cuisine: Antonino Cannavacciuolo
Ort: Orta San Giulio, Italien
Datum dieses Besuchs: 24.06.2023
Guide Michelin (IT 2023): ***
Meine Bewertung dieses Essens: 7 (Was bedeutet das?)
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