Mizai – der Reiz des Verbotenen

Für Diebe wäre es keine schlechte Strategie, die vor dem Restaurant Mizai auf Einlass wartenden Gäste auszurauben. Denn alle haben Bargeld dabei, viel Bargeld. Das Restaurant in Kyoto ist berüchtigt für dessen Nur-Bargeld-Regel, für ein teures, nicht stornierbares Menü von umgerechnet knapp fünfhundert Euro pro Person, für eine Weinkarte ohne Preisangaben, für ein striktes Fotoverbot – und vor allem dafür, dass Reservierungen hier eigentlich unmöglich sind.

Viele, auch ich, fragen sich daher, warum der Guide Michelin das Restaurant überhaupt noch aufführt. Wenn Restaurants zu Mitgliederclubs werden, haben sie in einem Restaurantführer nichts mehr zu suchen (weswegen auch Größen wie Sukiyabashi Jiro Honten und Sushi Saito längst aus dem Guide verschwunden sind). Doch dieses Mal hatte ich Glück – und einen offenbar gut vernetzten und engagierten Concierge. Meine Reservierung im Mizai, dem legendären, mit drei Michelin-Sternen ausgezeichneten Kaiseki-Restaurant, stand als eine der ersten in meinem Kalender, fast sieben Monate vor Reisebeginn.

Und jetzt stehe ich endlich vor dieser Tür, die vergleichsweise wenige Esser zu Gesicht bekommen dürften. (Was auch daran liegt, dass das Restaurant in einem etwas unzugänglichen Abhang eines Parks liegt). Ich bin – natürlich – zu früh hier. Man will nichts riskieren. Aber als ich mich dem Restaurant nähere, kommt schon ein junger Angestellter aus dem Pflanzendickicht hervor und begleitet mich höflich zu einem kleinen Außenwartebereich mit Sitzgelegenheit. Es gibt ein kühles Getränk dazu, was genau, weiß ich nicht, bin aber auch etwas zu aufgeregt, um irgendetwas zu notieren. Mizai ist mythisch.

Die Tür zum Restaurant ist noch verschlossen. Als ich sie fotografiere, nutze ich die Gelegenheit, den Mitarbeiter respektvoll auf die Foto-Regel anzusprechen – rein rhetorisch eigentlich, nur, um sicherzugehen. Seine Antwort, dass Fotos nur vom Essen, nicht aber von den Köchen gestattet seien, irritiert mich dann allerdings. Das strikte Fotoverbot eilt dem Mizai voraus. Man findet online auch so gut wie keine Fotos aus dem Restaurant. Doch seine Antwort war eindeutig. Ich entscheide mich, die Situation erst einmal abzuwarten.

Das Mizai ist ein Kaiseki-Restaurant, aber nicht im traditionellen Stil mit separaten Räumen für jede Gästegruppe (die sind hier dennoch buchbar), sondern um einen breiten Tresen herum. Die vierzehn recht eng gestellten Stühle haben eine normale Sitzhöhe, dafür ist die Küche dahinter etwas abgesenkt, sodass sich stehende Köche und sitzende Gäste auf Augenhöhe befinden. Im Hintergrund blickt man durch große Fenster auf Fels- und Pflanzenformationen des Maruyama-Parks.

Küchenchef und Inhaber Hitoshi Ishihara ist auch schon anwesend. Zumindest schließe ich, dass er es ist, was weniger mit der Gesichtsmaske zu tun hat, die er trägt, sondern eher mit der Tatsache, dass auch von Ishihara-san nur wenige Fotos zirkulieren. Obwohl der Küchenchef bereits seit zwanzig Jahren mit dem Mizai eines der berühmtesten Restaurants der Welt führt, agiert er selbst, auch heute Abend, bedächtig, konzentriert und leise. Außer einer kurzen Begrüßung und gelegentlichen Anweisungen an sein Personal wird hier nicht viel gesprochen.

Ich mache einige flüchtige und diskrete Schnappschüsse des Interieurs, aber die Sache ist mir noch etwas zu heikel. Etwas Wein könnte helfen, also frage ich nach der Karte. Tatsächlich weist sie keine Preise auf – ein sehr skurriler Sachverhalt, für dessen Erklärung mir nur dubiose Gründe einfallen. Ich frage schließlich nach dem Preis für einen 2021er Chassagne-Montrachet von der Domaine Fernand & Laurent Pillot und nicke den Preis von 33 000 ¥ (ca. 210 €) ab, den mir einer der Angestellten auf ein Stück Papier schreibt. Ishihara-san und seine Köche richten derweil den ersten Gang an, ein mehrgängiges Arrangement auf einem Tablett. Jeder Handgriff ist spannend zu beobachten.

In einem Schälchen gibt es Reis. Schneeweißen, puren Reis, der klar und rein nach Puder und Papier duftet und fast hypnotisch wirkt. Daneben befindet sich ein kleines, heißes Süppchen, das einer Miso-Suppe ähnelt; etwas Tofu schwimmt darin. Man kombiniert Reis und Suppe nach Belieben, es schmeckt wundervoll.

Reis und Suppe werden dann bereits vom Tablett abgeräumt. Es bleiben zwei weitere Kreationen zum Probieren. Ein Schnappschuss muss jetzt her. Es gibt eine kühle Zubereitung aus rauchiger Aubergine in einem geschmacklich »tiefen« Dashi-Gelee, dazu eine Sesampaste und frischen Wasabi – ganz exzellent. In einem separaten Schälchen begeistert dann ein spinatähnliches, gekochtes Gemüse mit tabakähnlichem Aroma, prononcierter Schärfe und blumigen Aromen. Das war ein eindrucksvoller Auftakt. (8,5/10)

Als nächstes folgt Hamo (Hechtmuräne). Drei gegarte Stücke des aalartigen Fischs sind mit Saucen aus Paprika, Ume und Ingwer getoppt, was zu unterschiedlichen Geschmackseindrücken führt, von pfeffrig über fruchtig bis pikant. Eine weitere Sauce aus Algen, in der man jeden der Happen stippen kann, betont den maritimen Charakter der sommerlichen Delikatesse. (8/10)

Es geht mit Sashimi weiter. In zwei großen Schüsseln sind verschiedene Fische direkt auf Eis angerichtet: Meerbrasse, Tintenfisch und Makrele in der einen, Thunfisch in unterschiedlichen Schnitten, roh und gegrillt, in der anderen. Als Begleitzutaten gibt es jede Menge frisch geriebenen Wasabi, dazu Rettich, Sudachi und Sojasauce in Form von gelierten Quadern. Die Fische sind alle von atemberaubender Qualität. Alle begeistern mit ihrem gehaltvollen Schmelz und einer durch die Kälte besonders präsenten, klaren Frische. Auch die Begleiter sind alle hervorragend. Die in Geleeform gebrachte Sojasauce ist besonders gewitzt, weil man damit am Gaumen nur Akzente setzt. Und dem in Europa kaum auffindbaren Genuss von Sudachi und Yuzu trauere ich jetzt schon nach. Es ist ein Sashimi-Gang auf Weltklasseniveau. (9/10)

Es folgt das traditionelle Suppengericht in einem kunstvollen Schälchen. Der Duft, als ich den Deckel entferne, offenbart ein heißes, mit Yuzu und geheimnisvollen Gewürzen parfümiertes Dashi. Soba-Nudeln mit Wermut und edlem Ziegelbarsch (Amadai) – so viel verstehe ich von der in brüchigem Englisch vorgetragenen Erläuterung – schwimmen in dem transparenten Sud. Das Dashi ist grandios – tief, flüchtig und intensiv –, die weiteren Zutaten sind ein texturelles und qualitatives Vergnügen. Die Hitze ist enorm, aber ich lasse es kaum abkühlen; das verstärkt die Emotionen. (9/10)

Seit einer Weile steht Meister Ishihara schon am Tischgrill, kaum einen Meter weit entfernt. Das führt dazu, dass schon während des vorherigen Gangs der appetitliche Duft von heißer Paprika und gehaltvollem Rindfleisch in die Nase zog. Das nächste Gericht folgt dann im Wesentlichen der Idee eines Barbecues mit Fleisch, Paprika und Kartoffel vom Grill und einem kleinen Salat. Der Unterschied zu westlichen Ausführungen liegt hier in Produktqualitäten und Handwerk. Die drei Scheiben Fleisch vom Wagyu aus der Shimane-Präfektur sind behutsam über Holzkohle gegrillt, bis zu einem Garpunkt, der die hohe Marmorierung des Fleischs noch gut erkennen lässt. Röstnoten, die die Aromen des edlen Rinds verschleiern könnten, stehen hier nicht im Vordergrund. Das Fleisch ist besonders buttrig, für diesen Fettgehalt jedoch optimal portioniert. Zudem begleiten die anderen Zutaten das Fleisch abwechslungsreich – und sind dabei selbst eher Protagonisten als Begleiter: die Paprika ist surreal aromatisch und schmeckt blumig-pfeffrig, ohne scharf zu sein; sie passt hervorragend zu der Pfeffersauce auf dem Fleisch. Die Kartoffel ist irrwitzig gut frittiert – luftig und kross –, und auch der kleine Kräutersalat, darunter Perilla (Shiso), verzaubert mit Aromen, die einen vor Frische regelrecht anspringen. Fernab jedweder Anrichtkünste – für ein Kaiseki-Menü geradezu unkompliziert – liefert dieses Gericht größten Genuss und selten erlebbare Qualitäten. (10/10)

Inzwischen gehen mir Fotos ein bisschen lockerer von der Hand, aber tatsächlich fotografiert sonst niemand – trotz einiger Handys auf dem Tresen.

Es geht weiter mit einem kühl servierten Gericht in einem Glasgefäß. Garnele und Jakobsmuschel, beide gegart und Letztere mit sehr appetitlichen Grillaromen ausgestattet, sind hier in einer milchigen, leicht süßlichen Flüssigkeit angerichtet, in der man noch auf die skurrile Zutat Schleimkraut sowie eine Zubereitung aus Tomate trifft. Das kleine Intermezzo löffle ich genüsslich leer, bei dem eine elegante Süße und unaufdringliches Umami den Ton angibt. Auch hier, selbst bei einer scheinbar trivialen Garnele, kommen atemberaubende Qualitäten zum Vorschein. (8/10)

Mit dem Hassun folgt das saisonale Arrangement, das hier kunstvoll auf einem Fächer angerichtet ist. Diverse Zutaten laden den neugierigen Esser zum Erkunden ein. Es gibt, so weit ich das verstehen und erkennen kann, Yamswurzel mit Seeigel und Nori-Sauce, Ayu mit Wasserpfeffersauce, Hering mit Alge, Qualle mit Gurke, Ayu-Paste mit Eisauce und Gurke, Oktopus, Hamo-Kaviar, Lotuswurzel, Süßkartoffel, Bambussprosse mit Edamame, »Eierkuchen«, Ente mit Senf. Dann gibt es noch zwei Speisen zum Auspacken: ein aufwändig zugebundenes Blatt, das die Feuchtigkeit eines darin befindlichen Seebrassen-Nigiris konserviert sowie, diesmal in einer Folie, gegrillten Aal. Zwei Ginkgonüsse runden diese Vorstellung ab, die, wie bei solchen Gängen auf diesem Niveau üblich, unzählige Eindrücke bietet – alle spannend und genussvoll, oft überraschend und höchst vielseitig. Das Weltklasseniveau springt einen förmlich an. (9/10)

Die leergegessenen Teller werden von Küchenchef Ishihara immer persönlich ausgehoben und wenig später durch neue Gerichte ersetzt. Das Tablett vor einem bleibt immer stehen, und simple Holzstäbchen sind das einzige Besteck.

Das nächste Gericht ist eine kalte Kreation um Aubergine aus Kyoto, die mit einer höchst aromatischen, leicht süßen und elegant pikanten Paprika und Hamo zubereitet wurde. Eine süffige Säure, leichte Schärfe und etwas Knusprigkeit bieten großen Genuss und außergewöhnliche Qualitäten. Selbst Alain Passard könnte bei diesen Gemüsen wohl nur neidisch zugucken. (9/10)

Zwei weitere Gerichte folgen auf dem Fuße. Beide sind dem Meer gewidmet. Ein Gericht mit Sashimi von sehr gehaltvollem Lachs und gegartem Oktopus begeistert mit spannenden Texturen und einem »würzig-lauchigen« Geschmacksbild, das von einem Dashigelee kühl und umami unterstrichen wird; und in einem silbernen Schälchen präsentiert eine Kombination von Abalone mit Abalone-Leber und Algen Qualitäten und Geschmacksbilder, die man so nur in Japan findet. (8,9/10)

Inzwischen stellt sich auch ein deutlicher Sättigungsgrad bei mir ein; die Gerichte sind vergleichsweise üppig. Es fühlt sich ein wenig so an, als wolle man den Gast mit jeder weiteren erlesenen Zutat von dem Spitzenniveau hier überzeugen. Aber für den Spitzenpreis kann man natürlich auch ein umfangreiches Mahl erwarten.

Es geht weiter mit der klassischen Kombination von Reis und eingelegtem Gemüse. Reis – gekocht und »verbrannt« – sind ungewöhnlicherweise in heißem Wasser angerichtet, das mit nichts anderem außer Salz und einem Mizuna-Blatt gewürzt ist. Der Geschmack, den vor allem der dunklere Reis an das Wasser abgibt, ist würzig und herb, das Salatblatt liefert einen Frischeakzent. Nur Japaner dürften es schaffen, »Reis in Kochwasser« zu einer höchst eleganten und wohlschmeckenden Speise zu machen. Die eingelegten Gemüse, die man zwischendurch dazu probiert, sind säuerlich, knackig und hocharomatisch. (8,9/10)

Ishihara-san hat mittlerweile damit begonnen, für jeden einzelnen Gast einen Matcha-Tee aufzubrühen. Er serviert das schaumige Elixier in einem tiefen Schälchen. Ich bin kein Fan des herben, grünen, manchmal auch leicht an Tabak erinnernden Geschmacksbilds von Matcha, aber das vorzügliche Handwerk – mit einer ganz feinen »Schaumigkeit« – ist unverkennbar. Vor der Teezubereitung habe ich großen Respekt, immerhin ist sie nicht weniger als ein Symbol für die Kaiseki-Küche.

Zu dem Tee – und noch einem anderen – werden nun Süßspeisen aufgetischt. Die erste ist eine Zubereitung mit einer Art Gelee aus Wasanbon, einem feinen japanischen Zucker, gewürzt mit Lotuswurzelpuder und begleitet von Schleimkraut. Um die glitschigen Zutaten greifen zu können, werden neue Holzstäbchen gereicht, die mit Wasser benetzt wurden und dadurch griffiger sind – die japanische Antwort auf einen Löffel. Das Gericht ist betont süß und erinnert aromatisch stellenweise an Marzipan. (8/10)

Dann folgt noch eine der eindrucksvollsten Vorstellungen märchenhafter Früchte. Auf einem Teller gibt es eine geschälte Feige mit Blaubeergelee, eine einzelne Weintraube sowie einen ebenfalls ausgelösten und geschälten Pfirsich mit einem Tupfen Birnengelee. In einem weiteren Schälchen findet man eine Zubereitung aus Miyazaki-Mango und Blaubeere. Es ist immer wieder verblüffend, wie »überzeichnet« die Aromen japanischer Edelfrüchte sind und dadurch fast unnatürlich wirken – unnatürlich gut.

Wenig später – inzwischen kämpfe ich schon etwas – gibt es noch einen Obstsalat, bestehend aus fünfundsiebzig (!) verschiedenen Früchten. (Die dürften ein kleines Vermögen wert sein.) Ein Steviablatt sorgt für etwas Süße. Man wird mit fruchtigen, exotischen, blumigen Aromen nur so geflutet. Ich schmecke mal Kaugummi, mal Bitterkeit, mal Karibik ... Das ist kaum in Worte zu fassen. Und damit habe ich in den letzten Minuten nicht nur achtzig verschiedene Früchte probiert, sondern gleich alle achtzig in einer surrealen Qualität. (10/10)

Ein etwas weniger ergreifendes Melonen-Sorbet mit Brandygelee und Passionsfrucht (7,5/10) ist dann wirklich die letzte Speise, bevor man in ein kleines Kabuff zum Bezahlen gebeten wird.

Wenn jetzt noch ein Dieb vor dem Restaurant wartet, fühle ich mich gut gewappnet. Nicht, weil es jetzt weniger zu holen gäbe. Sondern weil mich das Mizai bereichert hat. Und das kann mir keiner mehr nehmen.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Mizai
Chef de Cuisine: Hitoshi Ishihara
Ort: Kyoto, Japan
Datum dieses Besuchs: 24.07.2023
Guide Michelin (Kyoto/Osaka 2023): ***
Meine Bewertung dieses Essens: 8,9 (Was bedeutet das?)
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(Weitere Artikel über meine Reise nach Japan im Sommer 2023 unter diesem Link.)