Gion Maruyama – von Silberohren und Lilienblüten
In Kyotos pittoreskem Gion-Viertel versteckt sich das Zwei-Sterne-Restaurant Gion Maruyama zwischen einer Reihe beinahe identisch wirkender Häuser.
Ich muss mein Handy zücken und online nach eindeutigen Hinweisen suchen, denn laut Google Maps stehe ich schon vor dem richtigen Gebäude. Schließlich bin ich mir sicher genug, klopfe – und trete ein.
Es empfängt mich die gedämpfte Wärme eines klassischen Kyotoer Kaiseki-Restaurants: viel helles Holz, kleine Innengärten und dezente Arrangements, die Ruhe ausstrahlen. Ich werde gleich in den ersten Raum geführt, wo man an einem Tresen Platz nimmt. Das Restaurant bietet aber noch weitere Räume. Zu Gesicht bekomme ich diese nicht; von Beginn an bleibe ich in meinem kleinen Kosmos.
Zunächst ist noch niemand hinter dem Tresen, aber irgendwann erscheint ein Koch, recht jung, nicht der Inhaber. Vermutlich sitze ich am Tresen für Restaurantfremde. Das ist nichts Schlimmes – gerade bei Kaiseki-Restaurants sind die Unterschiede, zumindest für mich, subtiler als bei Sushi. Jeder weiß hier, was er tut.
Eine kleine Sake- und Weinkarte gibt es auch. Sie ist, typisch japanisch, laminiert und enthält sogar Fotos der Weine. Man führt vier Champagner, sieben Rot- und drei Weißweine, alle aus Frankreich oder Kalifornien. Meine Wahl fällt auf einen 2018er Chablis Grand Cru »Les Preuses« von der Domaine Chanson (19 800 ¥, ca. 114 €).
Als Aperitif gibt es Pflaumenwein. Das Menü war im Voraus bezahlt und kostet 47 500 ¥ (ca. 275 €).
Wenig später folgt das Sakizuke – so heißt der Auftakt eines Kyotoer Kaiseki-Mahls, der mit saisonalen Zutaten einstimmen soll. Im Sommer bedeutet das oft: Hamo (Hechtconger). Von dem aalartigen Fisch sind hier einige gekochte Stücke zusammen mit Radieschen und Gels von eingelegter Pflaume und Yam auf einem Maulbeerblatt angerichtet. Unten versteckt sich noch etwas Sojasauce. Das von Natur aus sehr zurückhaltende Aroma des Fischs wird hier von fruchtig-säurebetonten Akzenten belebt. Nur in Japan kann ein so leises Produkt derart präsent und charaktervoll wirken. Sehr gut. (7,5/10)
Ein kunstvoll angerichtetes Arrangement verschiedener Delikatessen folgt. Die Ästhetik und Anrichteweise spielt in der Kaiseki-Küche eine große Rolle. Die Zutaten dieses Gangs werden auf wertvollem Urushi-Lackgeschirr präsentiert, von dem man die Kleinigkeiten mit den Stäbchen zunächst auf den »Hauptteller« befördert.
Zuerst probiere ich Chimaki-sushi – gedämpftes, in Blätter gewickeltes und verschnürtes Sushi –, einmal erneut mit Hamo, einmal mit Saba (Makrele). Die höhere Temperatur und die weichere Textur des Reises können mich bei Weitem nicht so begeistern wie klassisches Nigiri, doch man lernt nie aus (beides 6,9/10).
Ein geschichteter, quaderförmiger Snack aus Ei, Schwimmblase und Leber vom Hamo, dekoriert mit einer einzelnen Sojabohne, schmeckt danach überraschend neutral (6,5/10). Ebenso ein Trio aus Yams, Yuzu und Mais, das sich in einer Lampionblume (Hōzuki) verbirgt – auch hier bleiben die Aromen erstaunlich verhalten, selbst das kleine Stück Yuzu (6,5/10). Bemerkenswert ist das alles dennoch – in seiner Sorgfalt, Tradition und Bedeutung, die sich mir hier nur erschließt, weil man ein englischsprachiges Menü ausgehändigt hat – akkurater übersetzt als manch englische Speisekarte im Original. Dieser Gang huldigt dem Gion Matsuri, einem der berühmtesten Feste Japans.
Der nächste Gang ist Owan Sumashi-jiru, in etwa: Owan, das klassische Kaiseki-Suppengericht in kunstvoll lackierter Schale, mit klarer Brühe. In diesem Dashi simmern: Roter Amadai (Guji) aus der Region Wakasa – einer der edelsten Fische der Kaiseki-Küche –, Wachskürbis, Maitake-Pilz, getrockneter Seegurkenrogen, Queller und Yuzu. Das heiße, duftende Gericht ist ein Inbild eines traditionellen Owan: klar, tief, saisonal. Hervorragend. (8/10)
Es folgt der Sashimi-Gang. Mit großer Geschicklichkeit präpariert der Koch Dorade (Tai), Thunfisch (Maguro) und Tintenfisch (Ika). Der pikant-grüne Duft des dazu frisch geriebenen Wasabi strömt bis an meinen Platz. Das qualitativ hervorragende Sashimi wird sehr kalt auf Eis serviert, was typisch ist.
Wer so etwas in Japan zum ersten Mal probiert, versteht, warum sich Vergleiche mit den allermeisten westlichen Versuchen, so etwas zuzubereiten, verbieten. Die Dorade schmeckt hier süßlich und klar, der Thunfisch ist fleischig und leicht buttrig, und der Tintenfisch ist zart und süß. Es ist eine Verbindung von herausragenden Produkten, Präzision im Schnitt und respektvollem Umgang mit dem Produkt, was ein Sashimi dieser Art so strahlen lässt. (Leider versäume ich, ein Foto des finalen Gerichts zu machen.) (8/10)
Für den nächsten Gang ist Ayu vorgesehen, der stintähnliche Süßwasserfisch, der vor allem in Kyoto als Sommerdelikatesse gilt. Was nun folgt, habe ich schon kommen sehen, denn die Glaskugel mit zwei quicklebendigen Fischen darin sieht nicht aus wie ein Zieraquarium. Mit ruhiger Selbstverständlichkeit greift der Koch hinein, zieht einen der Fische heraus, fixiert ihn und führt einen dünnen Metallspieß durch den heftig zappelnden Fisch. Dass er ihn dabei in eine für Ayu charakteristische Biegung zwingt, verleiht der Szene eine fast schmerzliche Anschaulichkeit.
Die Biegung erfüllt mehrere Zwecke: Der Fisch gart über der Glut gleichmäßiger; die Haut wird knusprig, ohne auszutrocknen, zudem wirkt der gebogene Fisch, als sei er gerade aus dem Fluss entsprungen – ein Symbol für Lebendigkeit und Sommer. Die Szene ist nichts für Zartbesaitete, aber wer bestimmte Dinge isst, sollte auch in der Lage sein, deren »Entstehung« zu beobachten. (Hierbei handelt es sich im Übrigen nicht um die Ikejime-Methode, bei welcher der Fisch nach dem Fang mit einem schnellen Stich ins Gehirn getötet wird.)
Das Resultat ist ein knuspriger Ayu wie aus dem Bilderbuch, mit appetitlich dunklen Röstnoten und in einer Form, die tatsächlich wirkt, als sei der Fisch spontan erstarrt. Man verspeist ihn in der Regel komplett – auch Kopf und Schwanz, wobei in Japan die leichte Bitterkeit des Kopfes sehr geschätzt wird. Hier ist mir das aber wegen ungewöhnlich vieler Gräten kaum möglich, was ich auf die Größe und Garweise zurückführe, die den Fisch zwar saftig hielten, die Gräten jedoch weniger mürbe machten als ich von vielen anderen Köchen kenne – vermutlich eine Stilfrage.
Ein Dip mit Essig und Wasserpfeffer bringt dazu säuerliche Kontraste mit. So skurril das alles anmuten mag, es ist schlicht hervorragend – in Qualität, Handwerk und Tradition. (8/10)
Es geht weiter: Eine halbierte Feige, mit roter und weißer Misopaste bestrichen, wurde gegrillt und ist in einem länglichen Blatt angerichtet. Das ist zugleich klassisch – denn die Zubereitung mit Miso, Dengaku genannt, ist tief in der Kyotoer Küche verwurzelt – und raffiniert, weil hier anstelle des üblichen Tofu eine saisonale Frucht im Mittelpunkt steht. Der Snack ist sehr heiß und erinnert in Geschmack und Konsistenz fast an einen süditalienischen Auberginen-Auflauf – erdig, fruchtig, umami. Sehr gut. (7/10)
Yaki-onigiri, die nächste Speise, bezeichnet einen gegrillten Reisball – nicht mehr, nicht weniger. Der ist klebrig, heiß und sättigend, aber gegrillter Reis ohne jegliche weitere Zutat stößt recht schnell an seine Genussgrenze. Handwerklich muss man das allerdings erst mal so hinbekommen. (6,5/10)
Das nächste Gericht ist Takiawase, ein klassischer Kaiseki-Gang, bei dem verschiedene saisonale Zutaten separat gegart und gemeinsam serviert werden, sodass jede ihren Eigengeschmack behält. In diesem Fall sind es Aubergine, Hering, Lotuswurzel, grüne Bohne und etwas zerstoßener Sanshopfeffer, angerichtet in einem dunkleren Dashi oder einer ähnlichen Brühe. So schmeckt hier der Sommer: süßlich, weich und tief – ein völlig anderer Ausdruck als das in Europa so vertraute mediterrane Pendant, das eher von Frische, Säure und hellen Aromen geprägt ist. Faszinierend gut. (8/10)
Mit Chinmi folgen, wörtlich übersetzt, »außergewöhnliche Köstlichkeiten«. Im Kaiseki-Kontext bezeichnet man damit kleine, intensiv schmeckende Delikatessen, die Akzente setzen. Hier präsentiert sich ein Trio, das kulinarisch erkundet werden will.
Zart gegarter Oktopus wird mit seinem milden Rogen und geriebener Gurke serviert – ein Spiel aus zarter Struktur und Frische, geschmacklich ausgewogen und texturell besonders reizvoll. (8/10)
Eine geschmorte, unreife grüne Pflaume mit Süßweingelee überrascht mit bemerkenswerten Aromen, ist sehr zart, erfrischend fruchtig, dabei noch mit dem Kern im Inneren, den ich gerade noch rechtzeitig bemerke. (7,5/10)
Schließlich folgt in Sojasauce, Mirin, Sake und Ingwer langsam geschmorter Thunfisch, eine Garmethode, die als Shigure-ni bekannt ist. Begleitet wird der tief würzig schmeckende Fisch von einem warmen Salat aus Tarowurzel, japanischem Honigkraut (Mitsuba), Silberohrpilz und Lilienblüte. Die Kombination entfaltet eine komplexe Aromatik, erdig und leicht süßlich, mit feinen Bitternoten, ungewohnt und harmonisch zugleich. (8/10)
Es folgt ein weiteres Trio aus Suppe, Reis und eingelegtem Gemüse – in etwa der Käsegang der Kaiseki-Küche. Die Misosuppe (aus verschiedenen Misoarten) kommt mit Awafu (Hirse-Weizengluten), erneut japanischem Honigkraut und gemahlenem Sansho-Pfeffer: würzig, umamitief, süßlich, heiß, exzellent. (8/10)
Das Gemüse – bestehend aus Mibuna, einem Blattgemüse aus Kyoto, Rettich, Wachskürbis, Aubergine, Seetang und Pestwurz – ist angenehm säuerlich und aromatisch (7/10), und der mit Ingwer und erneut japanischem Honigkraut gekochte Reis ist luftig, körnig und von einer Garung, die kaum ein Laie je so umsetzen könnte. (7,5/10)
Zeit für Mizumono, wörtlich: »Wasser-Dinge«. Darunter versteht man den leichten, frischen Ausklang eines Kaiseki-Menüs, meist mit Früchten oder kühlen Gelees. In diesem Fall gibt es Wassermelone, Ananas und Kirsche – alle verblüffend süß und saftig –, dazu Kuzu-kiri, feine, durchsichtige Nudeln aus kostbarer Pfeilwurz-Stärke, die in kaltem Wasser serviert und in dunklen Zuckersirup (Kuro-mitsu) getaucht werden. Das ergibt eine kühle, seidig-leichte Süßigkeit, die erfrischt und dennoch Tiefe besitzt. (8/10)
Nach kompakten zwei Stunden ist das Mahl zu Ende. Ich zähle es nicht zu meinen prägendsten Kaiseki-Erlebnissen, doch zweifellos erlebt man hier die kultivierte Kontinuität einer jahrhundertealten Esskultur – eher bewahrend als überraschend, eher feinsinnig als spektakulär. In der spätabendlichen Hitze des Sommers spaziere ich zurück zum Hotel. Morgen geht es weiter – denn nach dem Kaiseki ist vor dem Kaiseki.