Maeda – Stammgäste mit Edelpilz

Als ich viele Monate vor meinem Reisebeginn nach Japan über das Concierge-Team meines Hotels im Maeda reservieren wollte, informierte man mich, dass das Restaurant mit einem Reservierungsvorlauf von maximal zwei Monaten arbeite und bat um entsprechende Geduld. Für die umfangreiche Agenda meiner Reise war mir das zu knapp. Hinzu kommt, dass derart begehrte Restaurants nach meiner Erfahrung zwei Monate vorher ohnehin bereits über andere Kanäle ausgebucht sind und allenfalls spontane Lücken aufgefüllt werden.

Glück und Zuwarten waren aber nicht Teil meiner Strategie, hier einen Tisch zu bekommen. Daher schrieb ich kurzerhand einen Brief an das Restaurant, auf Englisch, mit einer höflich formulierten Bitte für eine Reservierungsmöglichkeit an ausgewählten Tagen im Juli. Meine Hoffnung, dass ein solches Schriftstück aus Deutschland genug Gewicht haben würde, um den Inhaber davon zu überzeugen, bei ihm einzukehren, ging auf. Wochen später informierte mich mein Hotel (welches ich ebenfalls in dem Brief erwähnte, um die Antwortmöglichkeit für das Restaurant so einfach wie möglich zu gestalten), dass der Inhaber des Maeda an einem meiner Wunschdaten einen Tisch für mich reserviert hätte und man sich über den Brief sehr gefreut habe.

Und jetzt, an diesem heißen Mittwochabend, stehe ich endlich an dieser etwas ruhigeren Straßenecke in Kyotos Stadtteil Gion. Das Maeda, benannt nach Küchenchef und Inhaber Yujiro Maeda, ist eines der sechs Drei-Sterne-Restaurants Kyotos. Wie auch dem Mizai eilt dem Lokal eine strikte Fotoverbotsregel voraus. In einer Zeit, in der Smartphones allgegenwärtig sind, wirkt eine derart pauschale Bestimmung immer etwas anachronistisch, fast schon wichtigtuerisch. Aber der noch recht junge Yujiro Maeda bezeichnet sich selbst schlicht als Traditionalisten. Er sei eben ein »traditional Japanese«, nuschelt er verschmitzt, als ich ihn während des Essens kurz auf die Foto-Situation anspreche – weder hoffnungsvoll noch fordernd, schlicht interessiert. Immerhin ist die Atmosphäre im Restaurant durch Maedas kommunikative und humorvolle Art sehr gelöst. Er selbst zückt ab und zu sein Smartphone, um Gästen etwas zu zeigen. Fotos, vor allem dezente, würden hier kaum auffallen.

Es täte ihm aber leid, erklärt er ironischerweise. Später wird er sich sogar noch dafür entschuldigen, dass das Essen so teuer geworden sei. Die Rede ist von einem Menüpreis von ca. 73 500 ¥ (ca. 470 €) zuzüglich Getränken.

Dass es noch etwas teurer wurde als offenbar üblich, liegt an einer Abzweigung, die das Menü ungefähr in der Mitte nimmt. Da präpariert Maeda gerade einen kostbaren Matsutake-Pilz für eine Dreier-Gruppe offenkundiger Stammgäste. Dass der Pilz nur für diese Gruppe vorgesehen ist, liegt vermutlich an einer bekannten Präferenz der Gäste. Der Küchenchef ist, wie viele gute japanische Küchenchefs, bekannt dafür, die Speisefolge an seine Gäste anzupassen. Bei neuer Klientel, und dann noch westlicher, wie mir, wird er vermutlich immer eine Art Standardmenü vorsehen.

Als ich dem Matsutake-Pilz, der an seinem langen, fleischigen Stil und der charakteristischen braun-weißen Schuppung einfach zu erkennen ist, etwas wehmütig hinterherblicke, werfe ich Maeda ein hoffnungsvolles »maybe next time« zu. Daraufhin leuchten seine Augen, und er fragt: »You want try?« (sic). Natürlich möchte ich, und ab diesem Moment sind die Gerichte von Stammgästen und mir synchronisiert. Japanische Küchenchefs sind von westlichen Gästen nicht gewohnt, dass sie japanische Zutaten kennen und manchmal sogar benennen können. Wenn das passiert, öffnet sich oft eine ganz neue Tür.

Man gelangt inzwischen auch rege ins Gespräch, so gut das aufgrund von Sprachbarrieren geht. Irgendwann fließt von irgendwoher ein 1985er Savigny-lès-Beaune in feine Zalto-Gläser, und ich öffne auch noch mal eine Flasche Champagner für alle (Egly Ouriet »Les Prémices«), der mir mit umgerechnet 64 € auch noch ganz offensichtlich zum Einkaufspreis verkauft wird. Ich könnte mir – in laienhafter japanischer Denke – gut vorstellen, dass es dem Küchenchef unangenehm war, dass in mich in seinem Restaurant in eine Situation manövriert habe, bei der ich mich dazu verpflichtet sah, einen auszugeben. Dabei könnte die Situation gerade kaum heiterer sein.

Der Matsutake-Pilz wird dann im Rahmen eines Shabu shabu serviert, einer Art Feuertopf-Gericht. Auf dem Tablett vor mir (in Kaiseki-Restaurants werden die meist mehrteiligen Gerichte üblicherweise auf einem Tablett angerichtet) steht ein Topf mit heißem Dashi, darin garen bereits längere Abschnitte des Pilzes. In einem anderen Schälchen gibt es rohen Hamo (Hechtmuräne), den der Küchenchef in einem weiteren Arbeitsschritt zuvor minutiös mit vielen feinen, parallelen Einschnitten versehen hat. Diese rohen Teile gibt man dann eigenständig in die heiße Brühe, um sie zu garen und füllt sich dann von allem – Brühe, Pilz und Fisch – mit einer Kelle immer ein wenig in ein weiteres Schälchen, aus dem man dann alles isst. Die Zitrusfrucht Sudachi liegt auch bereit, um einige florale, frische Akzente zu setzen. Es ist eine gute Idee, die aromatische Brühe später noch genussvoll auszutrinken. Das ist ein wunderbares Gericht, das von Zurückhaltung, minimalistischer Ästhetik und Andeutungen lebt. Japanischer könnte es kaum sein, und es ist wunderbar. (9/10)

Das Menü begann auch schon mit einem gleichermaßen grandiosen Auftakt. In einem schwarzen Schälchen richtete Maeda, unterstützt durch seinen Hilfskoch, einen optisch kontrastvollen Quader mit weißem Sesamtofu, Yuzuabrieb, frisch geriebenem Wasabi und einem sojabetonten Sud an. Das kühle Gericht bietet einen präzisen, sehr schmackhaften Frische- und Umamiakzent auf höchstem Niveau. (9/10)

Das nächste Gericht wird in einem kleinen Glasschälchen serviert. Darin findet man ein Stück gegarten Kürbis, zwei unterschiedliche Gurkenarten, akkurat obenauf platzierte Stücke Kuruma-Garnele, Dashi-Gelee und Shiso-Blüten. Letztere parfümieren das bildhübsche Arrangement, bei dem das kühle, leichte Dashi-Gelee für einen Grund-Umami-Geschmack sorgt, während der Rest der Zutaten mit ihren jeweiligen Texturen und glasklaren Aromen begeistert. Die bemerkenswerte Präzision der Zubereitung und die Produktqualitäten sind sofort auszumachen. (9/10)

Es folgt die Zubereitung des saisonalen Ayu. Sie unterscheidet sich von allen bisherigen Zubereitungen auf dieser Reise insoweit, als Maeda etwas größere Exemplare verwendet, die wegen ihrer Gräten schlecht im Ganzen zu verspeisen wären. Stattdessen »seziert« Maeda die gegrillten Fische, indem er Skelett und Kopf entfernt, dabei aber behutsam darauf achtet, dass die herbe Leber im Fisch verbleibt. Der Fisch, noch immer heiß und nach Grillaromen duftend, wird schließlich ganz schlicht auf einem antiken Keramikteller serviert. Zusammen mit einer grünen, säuerlichen Sauce ist das eine sehr schmackhafte Angelegenheit und deutlich besser als beispielsweise gestern Abend im Gion Maruyama, wo mir bei ähnlicher Größe des Fischs die Gräten tatsächlich ein wenig zu viel waren und am Tellerrand landen mussten. Maeda weiß damit etwas Besseres anzufangen: Er serviert Kopf und Skelett komplett frittiert als zweiten Gang – leicht, knusprig und kurzweilig. Sehr eindrucksvoll. (8,5/10)

Zwischen den beiden Ayu-Präsentationen gab es noch zwei Einschübe. Die erste war eine Art golfballgroße, heiße Kugel aus frittiertem Maispüree. Die verwendete Maissorte weist eine besonders feine Süße auf; der ganze Snack erinnert aromatisch an Popcorn und versetzt mich gedanklich in einen Kinosaal. Der schlichte Snack schmeckt außerordentlich gut, und die fein-knusprige Hülle und saftige Füllung bieten dazu noch abwechslungsreiche Texturkontraste. Hervorragend. (8/10)

Danach gab es ein Schälchen mit grüner und gelber Paprika, kurz gegrillt und mit einer ebenso feinen natürlichen Süße ausgestattet wie der vorherige Mais, dazu gibt es ein Stück Hamo, das Maeda nicht über Holzkohle, sondern direkt über einer Gasflamme grillt. Eine gelbe Sauce, Yuzu und Kaviar bringen den letzten Zauber in dieses Gericht, das aromatisch einen ganzen Sommer einfängt. (9/10)

Nach dem frittierten Ayu-Skelett, aber immer noch vor dem Matsutake-Shabu shabu, richtet der Küchenchef in einem kleinen, handbemalten Glas Junsai (Froschkraut) an, die skurrile japanische Glibbergemüse-Delikatesse. Auch damit gelingt Maeda eine erstaunliche Kreation. Zu dem Kraut gießt er noch eine helle Flüssigkeit an, vielleicht ein Dashi, und gibt noch eine Portion frisch geriebenen Wasabi hinzu. Das Glas selbst wiederum steht in einer Schale mit Eiswürfeln, die alles kalt halten. Mit einem kleinen Holzlöffel bekommt man das glitschige Gemüse zwar ganz gut in den Mund, aber am Ende führe ich es einfach direkt zum Mund. Das frische, am Gaumen aufplatzende Gemüse­ mit angenehm salatartigem, aber auch leicht süßlichem Geschmack, die Schärfe des Wasabis und das wohlschmeckende Umami der Sauce ergeben einen kleinen, feinen Hochgenuss. (8,9/10)

In einem silbergrauen Schälchen folgt der nächste Gang. In einer milchigen, heißen Brühe gibt es ein außen knuspriges, innen saftiges Stück von frittiertem Teufelsfisch, ein monsterähnlicher Drachenkopfverwandter, der in Japans Hochküche als Delikatesse gilt. Maeda zeigt mir den Fisch inklusive lateinischer Bezeichnung auf seinem Handy. Dazu gibt es verschiedene Gemüse, unter anderem Aubergine, Prinzessbohne und frisch geschnittenen Japanischen Ingwer (Myoga), der immer eher an Schalotte erinnert. Eine weitere, schwarzbraune, weiche Zutat, sieht auf den ersten Blick aus wie eine Morchel, doch handelt es sich hierbei um ein Stück Haut des Fischs, die angenehm schmeckt und am Gaumen fast zerfällt – überraschend gut. Die Gemüse dazu sind schlicht, aber frappierend wohlschmeckend, aromatisch fast schon überzeichnet und damit typisch für die herausragenden Produkte Japans, von denen auch hier sehr viele aus Hokkaido stammen. Ein leichtes Grillaroma ergänzt das erneut sommerliche Gericht. (9/10)

Inzwischen bereitet Maeda-san etwas Sashimi zu. Mit gekonnten Schnitten präpariert er einige Scheiben Dorade und platziert sie in ein Schälchen. Dazu gibt es etwas Seeigel, ocker-orange und etwas kleiner als die typischen Exemplare aus Hokkaido. Man genießt beides – die kühle Dorade mit »klarem« Aroma und den weichen Seeigel mit seiner jodigen Süße – wahlweise mit sehr feinem Meersalz aus Okinawa oder etwas Sojasauce, in jedem Fall aber mit frischem Wasabi. Sashimi wie diesem kann man nur in den absoluten Spitzenrestaurants dieser Welt begegnen. (9/10)

Nach dem shabu shabu mit Pilz und Fisch, das nun folgt, gibt es gegrillten Süßwasser-Aal (unagi). Umso aufwändiger die vorherige Zubereitung des Fischs sich gestaltet, umso schlichter ist das Gericht nun angerichtet. Zwei Stücke des Fischs, innen schneeweiß, außen appetitlich goldbraun und am Gaumen fein süß, zart und gehaltvoll, sind in einem kleinen Schälchen angerichtet. Dazu gibt es einen sehr dünn geschnittenen Gurkensalat – natürlich nicht von irgendeiner Gurke, sondern von einer kleinen, sehr aromatischen aus Kyoto. Aal mit Gurke: Nur in Japan kann man daraus ein Weltklassegericht zaubern. (8,9/10)

Das inzwischen durchaus üppige Mahl geht noch weiter. Es gibt Abalone in einer interessanten Präsentation. Eine recht große Tranche des maritimen Schneckentiers ist ein einem Schälchen mit Eiswasser angerichtet, in dem noch einige Scheiben Myoga und Gurke schwimmen. Das Eiswasser sorgt dafür, dass die in diesem Fall sehr bissfeste Konsistenz der Abalone erhalten bleibt. Man tunkt sie in eine grünbraune, appetitlich bittere Sauce aus Abaloneleber und genießt dazu noch einen Hauch frischem Wasabi. Die im Eiswasser schwimmenden Myoga-Scheiben und die penibel schräg eingeschnittenen Gurkenstückchen sorgen zwischendurch für etwas Abwechslung. Viel mehr als diese Reduktion aufs Produkt und das sehr gewissenhafte Handwerk braucht auch dieses Gericht nicht, um sich auf dieser Weltklasse-Bühne zu behaupten. Außergewöhnlich gut. (9/10)

Es folgt ein kleiner Zwischensnack. Eine gegarte und glasierte Ginkgonuss, die mit einem Zahnstocher serviert wird, bietet einen unbekannten Hochgenuss zwischendurch. Der Geschmack liegt zwischen Erbse, Bohne und Edamame, die Konsistenz erinnert an Kartoffel; allerdings ist der Fettgehalt merklich hoch und sorgt am Gaumen für vollmundiges Umami. Eine wundersame Zutat! Ich kommt auch nach zwei Stunden nicht aus dem Staunen heraus. (8/10)

Die Stimmung ist inzwischen sehr gelöst. Immer wieder kommt es zu kurzem Austausch, trotz der recht wackeligen Englischkenntnisse des Küchenchefs. Aktuell scherzen wir über meine Verwechslung der Begriffe unagi und anago, die Süßwasser- bzw. Salzwasseraal bezeichnen. Ich bezeichnete den Aal, mit dem Maeda-san gerade hantiert, irrtümlicherweise als die Salzwasservariante, und das ist ungefähr genauso falsch als hätte ich Rindfleisch mit Rotkohl verwechselt. Aal halt.

Aubergine, die in akkurat austarierter Entfernung über dem Feuer brutzelt, wird dann in ein schwarzes Schälchen mit einem geschmacklich an eine Vichissoise erinnernden Sud mit Myoga platziert; dazu gibt es Amadei, einen sehr aromatischen Ziegelbarsch und mildem, kühlem gehobeltem Rettich. Die Hitze, die Fischqualität, der wohlige Gesamtgeschmack: es bleibt grandios. (9/10)

Jetzt kommt noch der Aal ins Spiel, also Süßwasseraal. Er kommt zum Vorschein, als ich ein kleines Päckchen aus Blättern auseinanderfalte. Dort ist er auf einer handlichen Portion Reis platziert. Das »Geschenk« dampft und duftet. Daneben, recht karg, gibt es einige Scheiben Aubergine aus Osaka, die nur leicht gekocht sind, sowie kleine Gurkenstücke. Immer wieder, so auch hier, spielt die Schnitttechnik aller Zutaten eine Rolle, die das Gefühl am Gaumen maßgeblich beeinflusst. Es gibt also Reis, Aal und Gemüse, alles recht schlicht, aber äußerst schmackhaft, handwerklich perfekt und qualitativ bemerkenswert. (8,5/10)

Es folgen noch: ein Feigensorbet mit Joghurt (auf den Punkt, 7/10) und eine Art quaderförmiges Stück Gelee aus roter Bohne und Alge (herb-süß, sehr gut, 7/10).

Und all das, gepaart mit Meister Maedas Gastfreundschaft, seiner humorvollen und herzlichen Art, macht diesen Abend zu einem der besten gastronomischen Erlebnisse dieser ergiebigen Reise.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Maeda
Chef de Cuisine: Yujiro Maeda
Ort: Kyoto, Japan
Datum dieses Besuchs: 26.07.2023
Guide Michelin (Kyoto/Osaka 2023): ***
Meine Bewertung dieses Essens: 8,9 (Was bedeutet das?)
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(Weitere Artikel über meine Reise nach Japan im Sommer 2023 unter diesem Link.)