Xin Rong Ji (Xinyuan South Road) – Gelbfisch zu Silvester

Xin Rong Ji ist nicht etwa der Name eines einzelnen Restaurants, sondern der Name einer der erfolgreichsten Restaurantgruppen Chinas. Die Gruppe betreibt diverse gehobene Restaurants, unter anderem in Hongkong, Peking und Shanghai, die es insgesamt auf ein gutes Dutzend Michelin-Sterne bringen.

Das Restaurant in der Xinyuan South Road in Peking ist so etwas wie die Haupt-Filiale der Kette. Sie ist auch als einzige mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet. Das verwundert insofern als der Guide Michelin auf seiner Website schreibt, dass das Menü hier »im Wesentlichen dem anderer Filialen« entspricht. Warum man das nicht weiter erläutert – immerhin geht es hier um die höchste kulinarische Auszeichnung –, darf man wohl als Michelin-Mysterium verbuchen.

Mein letzter Abend in Peking ist gleichzeitig auch der letzte Abend des Jahres. Morgen – sehr früh – geht es weiter nach Seoul. Meine frühe Reservierung um halb sieben kommt mir daher sehr entgegen, wie auch die Tatsache, dass sich das Xin Rong Ji direkt neben meinem Hotel befindet.

Die Atmosphäre des erdgeschössigen Restaurants gefällt mir auf Anhieb. Diverse unterschiedlich ausgelegte Essbereiche und Kochstationen verteilen sich über eine große Fläche. An gestalterischen Details kann man sich hier kaum sattsehen: Im Eingangsbereich stellt eine riesige Vitrine verschiedene Delikatessen wie Abalone, Vogelnester und lebendige Edelfische und Krustentiere in Aquarien zur Schau; an einer offenen Küche hantieren Köche mit übergroßen Garkörben; es gibt Plätze an Tresen, an normalen Tischen, auf Sitzbänken und in privaten Speiseräumen. Dass es hier so belebt zugeht, erleichtert mich nach dem etwas beklemmenden Erlebnis heute Mittag im Chao Shang Chao.

Dass der Kellner, der mir zugewiesen ist, perfekt Englisch spricht, lockert die Situation weiter auf.

Ein Menüvorschlag liegt schon neben mir, wenngleich er mit vier explizit als Hauptgänge deklarierten Gerichten sehr umfangreich erscheint. Ich stöbere zusätzlich auch in der Speisekarte, um mir einen Überblick zu verschaffen. In den Xin Rong Ji-Restaurants geht es primär um die Taizhou-Küche, die besonders für ihre Meerestiere bekannt ist. Während ich noch in der Karte stöbere, wird eine kleine, mundgerecht aufgeschnittene Orange serviert. Die erfrischende Einstimmung schmeckt süß und intensiv.

Da es hier keine Sprachbarrieren gibt, habe ich Gelegenheit, mich etwas über den Umfang und die Art der Gerichte auszutauschen. Vor allem ein Gericht mit Lamm aus dem A-la-carte-Teil sagt mir besonders zu. Man ist hier sehr flexibel und schlägt vor, erst einmal loszulegen und zu sehen, wo die Reise hingeht.

Die vom Wine Spectator ausgezeichnete Weinkarte ist sehr umfangreich; ich begnüge mich heute Abend mit einigen offenen Weinen, die ich nicht alle im Detail notiere.

Als Menübegleiter werden drei Schälchen gereicht, die sich von dem bekannteren Gedeck mit XO-Sauce und Sojabohnen-Pasta deutlich unterscheiden. Eines der Schälchen enthält winzige getrocknete Fische mit besonders blumig duftenden Chilischoten, ein weiteres eingelegten Rettich, ein drittes eingelegten Kohl mit Ackerbohnen. Alles ist sehr präzise zubereitet und schmeckt hervorragend.

Eine weitere Speisetrilogie erreicht den Tisch, dies mal sind es kleine Vorspeisen. Links gibt es frittierten Haarschwanz, ein länglicher, barschverwandter Fisch. Das Stück ist heiß und appetitlich knusprig; die ausgeprägten Gräten im Inneren sind eine Überraschung (6,9/10). Das Schälchen in der Mitte enthält ein Stück kühle Seegurke auf einem Salat von Frühlingszwiebeln und sehr scharfen Chilischoten, mutmaßlich dieselben wie in einem der Condiments. Das schmeckt wunderbar fruchtig, zudem ich habe in einem Drei-Sterne-Restaurant noch nie so etwas Scharfes serviert bekommen. Exzellent (8/10)! Das dritte Schälchen – mit gekochter Schweinewurst und Spinat aus Shanghai – sieht regelrecht französisch aus und begeistert mit einer süßlich-würzigen Wurst und präzise gegartem, besonders aromatischem Spinat (7,5/10).

Die aufgelockerte Atmosphäre und offene Raumgestaltung bereitet derweil großen Spaß und wirkt – für China – überraschend kosmopolitisch. Inzwischen habe ich einen chinesischen Rotwein im Glas, einen überzeugend guten 2021er Bordeaux-Blend vom Weingut Domaine Muxin aus der Yunan-Provinz (umgerechnet ca. 35 €).

Der nächste Gang präsentiert ein Stück Blaue Schwimmkrabbe in einer Sauce auf Basis eines sherryarigen chinesischen Weins. Wenn ich es richtig verstanden habe, ist der Wein aus den Achtzigerjahren und hat über fünftausend Jahre Tradition bei der Herstellung. Die Sauce ist dicht, aromatisch und viskos, regelrecht medizinisch-mandelartig. Den Krebs nehme ich in die Hand und bemühe mich, das Fleisch davon irgendwie abzulutschen. Es hat eine etwas wachsartige Konsistenz, nicht so faserig, wie man es sonst von Krebsen kennt. Der kleine Fingersnack ist ein qualitatives und geschmackliches Erlebnis auf Weltklasseniveau. (9/10)

Nur einige Meter weiter vor mir bereitet ein Koch gerade eine Ente zu. Sie glänzt schon aus der Ferne, während auf meinem Tisch die für Peking-Ente traditionellen Beilagen platziert werden: Streifen von Frühlingszwiebeln, Gurke und mariniertem Rettich, Hoisin-Sauce, Zucker.

Die erste Portion der Ente ist dagegen unkonventionell: Es gibt kleine, mundgerecht portionierte Stücke des Vogels, die mit Kaviar getoppt sind, sowie ein Stück von der Keule. Man kann sich damit schon mal auf genussvolle Art einen Eindruck von der Qualität und dem Handwerk machen. Mit dem gehaltvollen, zarten Fleisch und der fast surreal knusprigen – und dabei doch saftigen – Haut ist beides auf einem Referenzniveau. Der Kaviar ist eher überflüssig, weil der Salzkick nicht einmal besonders gut dazu passt, aber auch nichts verschlechtert. Ohnehin, es ist Silvester!

Der zweite Teller, den man kurze Zeit später serviert, enthält dann die traditionelleren Hautstücke, sowie zusätzlich noch Abschnitte des Fleischs, die man zusammen mit den Gemüsebeilagen und etwas Sauce in die hauchdünnen Pfannkuchen einrollt. Das ist so hervorragend wie Peking-Ente nur sein kann – definitiv die beste, die ich je gegessen habe –, aber man könnte natürlich, wenn man wollte, grundsätzlich etwas Monotonie beim Genuss dieser Spezialität feststellen. Insofern ist eine Bewertung von 8,9/10 hier wohl das höchste der Gefühle.

In einem Bambusdämpfer wird danach eine einzelne Teigtasche serviert. Wie immer muss man natürlich berücksichtigen, dass ein solcher Gang anders aussähe, bestellte man in einer größeren Gruppe oder gezielt ein paar Dim Sum à la carte. Der einzelne Dumpling hier ist sehr akkurat gearbeitet und mit Rettich, Kräutern und Gelbfisch (Yellow croaker) gefüllt. (Um den Fisch wird es im weiteren Verlauf des Menüs noch öfter gehen; es ist eine der für dieses Restaurant typische Zutat.) Der heiße Snack schmeckt mild und klar, das Teighandwerk überzeugt – sehr gut, keine Frage. (7/10)

Und dann kommt wieder eine Überraschung, wie ich sie auf dieser Reise bereits mehrfach erlebt habe. Und wieder ist diese Überraschung eine Suppe. In einem milchig-viskosen Sud, der intensiv nach weißem Pfeffer duftet, finde ich erneut Stücke vom Gelbfisch, dazu die seltsame Zutat Fischblase, mit der ich mich längst ein wenig angefreundet habe und deren Textur an noch nicht ganz fertig gekochte Pasta erinnert. Ebenfalls enthält die sehr heiße Suppe einen »tibetischen Pilz«, bei dem es sich nach meinen späteren Recherchen eigentlich nur um den so genannten Chinesischen Raupenpilz handeln kann – eine weitere skurrile Zutat. Kuriose Zutaten hin oder her, ist die Suppe eine Sensation. Sie wärmt von innen, erhitzt weiter mit einer subtilen, aber konstanten Schärfe und hat ein sehr wohltuendes, besonders harmonisches Geschmacksbild, das Japaner vielleicht auch als Umami bezeichnen würden, aber nichts mit der fleischbetonten Herzhaftigkeit zu tun hat, die man damit bei uns oft assoziiert. Es ist eher eine milde, feine Süße, gepaart mit etwas Erdigkeit. Was es auch ist, es ist grandios. (10/10)

Der nächste Gang ist eine Art Chawanmushi, also Eierstich, der mit Huadiao-Reiswein und Krustentierfond zubereitet wurde und wegen Letzterem orange leuchtet. Darauf findet man, etwas kleinteilig, das Fleisch gedämpfter weißer Garnelen sowie etwas Seeigel. Die gesamte Komposition schmeckt angenehm maritim; dabei steht die Spannung zwischen dem aromatisch intensiveren Krustentierfond und den mild-süßlichen Garnelen im Vordergrund. Auch die Hitze ist abermals eine entscheidende Zutat. Das ist deutlich besser als es angerichtet ist. (8,5/10)

Inzwischen kämpfe ich mich schon durchs Menü, immerhin war bereits eine nicht unwesentliche Portion Peking-Ente Teil des Menüs. Da man mir volle Flexibilität zugesichert hat, mache ich den folgenden zu meinem letzten herzhaften Gang. Zwei würden eigentlich noch folgen.

Aber der nun servierte Gelbfisch ist das Gericht des Hauses schlechthin. Die Delikatesse wurde im Ganzen gegart, zu einer beinahe zerfallenden Konsistenz, und ist in einer dichten, milchig-trüben, aber samtigen Sauce angerichtet. Ein Reiskuchen ist auch noch Teil des Gerichts. Letzterer ist das Ergebnis einer täglich hier durchgeführten, aufwändigen handwerklichen Zubereitung, die zu einem besonders gummiartigen Gebilde führt, das sich nur mühsam verzehren lässt. Bei dem Fisch selbst muss man sich durch eine Unmenge an sehr feinen, langen Gräten kämpfen, um in den Genuss des Fleischs zu gelangen. Die Mühen zahlen sich aus, denn in Verbindung mit der sehr würzigen, aber harmonischen Sauce, ist das ein wahrhaftiges Qualitäts-Highlight. Ingwerstücke, Chili und Frühlingslauch mischen sich auch noch irgendwo dazwischen, sodass ein erkennbar »chinesisches« Geschmacksbild entsteht – mit einer Zutat im Mittelpunkt, die dennoch so pur zelebriert wird wie ein Wolfsbarsch am Mittelmeer. Den würde man zwar etwas gaumenfreundlicher servieren, aber hier sticht die Tradition etwaige Befindlichkeiten. Ich arbeite mich jedenfalls so weit es geht da durch; die Gräten gewinnen aber schließlich den genussreichen Kampf und hinterlassen ein kleines Schlachtfeld. (8,5/10)

Als Abschluss folgt noch eine Kugel Eis mit weißem Alba-Trüffel und Vanille. Wohl kaum chinesisch, aber ohne Umschweife hervorragend. Es ist meine letzte Speise des Jahres. (8/10)

Das neue Jahr beginnt schon in drei Stunden. Es wird so beginnen, wie dieses aufhörte: genussreich und in der Ferne. Ich muss jetzt los, mein Flug nach Seoul geht schon morgen früh.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Xin Rong Ji (Xinyuan South Road)
Chef de Cuisine: Ding Yong
Ort: Peking, China
Datum dieses Besuchs: 31.12.2023
Guide Michelin (Beijing 2024): ***
Meine Bewertung dieses Essens: 8 (Was bedeutet das?)
Dieser Bericht in den sozialen Netzen: Facebook

(Weitere Artikel im Zusammenhang mit dieser Reise unter diesem Link.)