Sézanne – auf dem Gipfel etwas kühler
Mit Stationen im Epicure und Per Se im Lebenslauf ist es für den 36-jährigen Daniel Calvert nichts Neues, in einer Drei-Sterne-Küche zu kochen. Diese jedoch selbst erkocht zu haben, dürfte der bisher wichtigste Meilenstein in der Karriere des jungen Briten sein.
Als ich vor zweieinhalb Jahren zu einem fulminanten Lunch hier war, konnte ich mir nicht erklären, worauf der Guide Michelin noch wartete, um seine Höchstwertung zu attestieren. Erst in der übernächsten Ausgabe des Restaurantführers war es dann so weit. Nach einer kulinarisch bewegenden Woche in Japan ist ein französisches Restaurant genau das Richtige für den Abschluss meiner Reise.
Für diesen letzten Abend habe ich eigens im Four Seasons Hotel Tokyo at Marunouchi eingecheckt, eine Art »Boutique«-Version eines Four Seasons mit nur 57 Zimmern und 7 Stockwerken. Für Eisenbahnfans wäre das sicherlich ein perfekter Ort, da einige Zimmer einen direkten Blick auf die belebte Tokyo Station bieten. Schlanke Shinkansen-Züge ziehen hier – nicht ganz geräuschlos – im Minutentakt vorbei. Und wer sich eher mit Gastronomie anfreunden kann als mit Zügen, ist hier ebenfalls richtig, denn das Sézanne befindet sich im 7. Stock des Hotels.
Mir kommt alles noch so vor, als sei es gestern gewesen. Der Speisesaal in hellen Creme-Tönen, die große Anrichte in der Mitte, auf der gerne auch mal sehr teure Weinflaschen zu sehen sind (wie heute z. B. eine Flasche Château Haut-Brion) und das Sichtfenster zur Küche dahinter – der Rahmen ist nach wie vor elegant und kosmopolitisch.
Das Menü heute Abend ist ein Überraschungsmenü und kostet 50 600 ¥ (ca. 310 €). Der erste Wein von der umfangreichen, aber hochpreisigen Karte wird ein 2021er Saint-Aubin 1er Cru »En Remilly« von der Domaine Joseph Colin (ca. 257 €). Wir sind zu dritt, daher steht die nächste Option auch schon in den Startlöchern – ein 2019er Nuits-Saint-Georges »Villes Vignes« von der Domaine Robert Chevillon (ca. 250 €).
Den kulinarischen Auftakt machen, wie zuvor, zwei Gougères mit vier Jahre gereiftem, flüssigem Comté. Der warme Snack ist leicht und doch kraftvoll, mit perfekt abgestimmtem Umami und Salz. Eine winzige Nuance begeistert mich der Snack weniger als letztes Mal, weil er etwas geringer temperiert ist. Dennoch hervorragend. (8/10)
Ein dann aufgetischtes Sauerteigbrot mit bretonischer Butter ist leider befremdlich hart, fast so, als sei es vom Vortag. Seltsam, bei dem Durchlauf an Gästen hier.
Die nächste Speise ist eine »Bouillabaisse« auf Basis eines Fonds mit Kugelfisch und Jakobsmuschel. In dem leicht aufgeschäumten Sud findet man noch Elefantenrüsselmuschel (Mirugai) und Knoblauchchips. Wesentlich zum Genuss trägt der eingesetzt Safran aus der Saga-Präfektur bei, der mit seiner warmen, leicht metallischen Würze und feinen Bitternote die Meeresaromen abrundet und dem Gericht eine elegante Tiefe verleiht. Erneut hervorragend. (8/10)
Eine Shrimp-Tartelette setzt das Menü fort. Als besonders gelungen empfinde ich hier, dass sich die Dramaturgie des Menüs langsam entfaltet. Die Grenzen zwischen Amuse-Bouches und den eigentlichen Gängen verschwimmen – oder entfallen ganz –, was von Beginn an eine fokussierte Präsentation ermöglicht. Gerade bei Degustationsmenüs wirkt dieses Konzept besonders schlüssig. Diese Tartelette enthält eine Füllung mit cremig-nussigem Shima ebi (Garnele) aus Hokkaido und ist mit Weißweingelee getoppt, das für einen leicht säuerlichen Gegenpol sorgt. Minimalistisch und exzellent. (8,5/10)
Der nächste Gang vereint Entenleber als Paté mit einer gelierten Five Spices-Sauce. Die kühle Speise duftet intensiv nach den exotischen Gewürzen und weckt damit unweigerlich Assoziationen an Peking-Ente. Die feine Süße der Sauce harmoniert perfekt mit der cremig-nussigen Foie Gras und betont deren Schmelz. Das ist einfach zu genießen, aber doch komplex und tiefgründig. Nach dem hervorragenden Einstieg erreicht das Menü (erst) jetzt die Top-Liga. (9/10)
Das Niveau bleibt gleich mit Kinki fish (Kurzdornkopf) von der Küste vor Hokkaido. Der betörend Süße, gehaltvolle Fisch wurde über Holzkohle zur Perfektion gegrillt – sein Fleisch ist schneeweiß und elastisch, die knusprige, goldbraune, fast transparente Haut weist leichte Röstspuren auf und glänzt appetitlich. Zwei ideal portionierte Stücke des Fischs sind in einem Saucentrio in Form einer Muschel-Beurre-Blanc, einer Paprikasauce mit Shishito-Pfeffer und Basilikumöl angerichtet. Bereits die Optik des Tellers entlarvt ihn als Gericht auf Weltklasseniveau. Keine Tupfen, keine Cremes, keine Kräuterexzesse, keine akribisch positionierten Elemente – nur reine, herausragende Produkte und perfektes Saucenhandwerk. (9/10)
Der nächste Gang hat Morcheln aus der Yunnan-Provinz in China zum Thema. Eine große davon ist mit einer Farce aus Ama Ebi (Kaltwassergarnelen) gefüllt, weitere Morchelstücke sind in einer dunklen Sauce mit umamitiefer Würze verarbeitet. Gemüse in Form von Mangold und Frühlingslauch steuert knackige Frische bei, während eine schaumige Hollandaise mit Vin Jaune und Garnelenöl eine Fortsetzung jedweden unbeschwerten Schlemmens ermöglicht. Ein hauchdünner, leicht süßlicher Chip überdeckt zu Beginn das Gericht. Ein noch von irgendwoher stammendes Süßholzaroma unterstreicht die aromatische Komplexität des Gerichts. (9/10)
Wenige, erlesene Zutaten, eine kompakte Anrichtweise in Tellermitte: Auch der folgende Gang beruht auf diesem überzeugenden Konzept. Zunächst ist nur eine Scheibe schwarzen Wintertrüffels erkennbar, die etwas gewölbt über einer offenbar kugelförmigen Zutat liegt. Das Versteckspiel findet in einer glänzenden, duftenden Sauce statt, die nach nassem Waldboden und etwas Maritimem duftet. Letzteres entpuppt sich als Shirako (Fischmilch) vom Kabeljau, der mit etwas Schnittlauch getoppt ist. Die Kombination dieser Zutaten verspricht Großes – und das Gericht wäre auch einer Höchstbewertung würdig, wäre es einige deutliche Grad heißer. Gerade der Genuss der cremigen Fischmilch lebt in der Regel von Hitze; auch hätte eine höhere Temperatur die Aromen noch mehr strahlen lassen. Man merkt regelrecht, dass das so nicht gewollt ist. Vermutlich stand der Teller zu lange am Pass – das darf hier eigentlich nicht passieren. Doch auch so ist das immer noch mehr als hervorragend. (8,5/10)
Das nächste Gericht hat gleich zwei ähnliche Eigenschaften: Es gibt erneut Shirako, diesmal jedoch nicht als Hauptzutat, sondern als Mitspieler in einem Arrangement mit Fugu (Kugelfisch). Von dem Fisch gibt es ein Filetstück, eine mit Butter montierte Sauce mit dessen Knochen – sowie besagte Fischmilch. Gebratene, weiche Croûtons und eine Art Wirsing begleiten die eigenwillige Komposition. Der zweite Aspekt, der dieser Teller mit dem vorherigen teilt, ist ein Temperaturproblem: Die Zutaten sind allenfalls lauwarm – dabei wäre gerade hier eine makellose Technik nötig, um den schon von Natur aus wenig spannenden Kugelfisch ins beste Licht zu rücken. Das Niveau ist dennoch sehr hoch; eine feine Säure, der saftige Fisch und der elegant bittere Kohl überzeugen prinzipiell. (7,5/10)
Zum nächsten Gang fällt noch die Wahl auf einen 2020er Chambolle-Musigny »Vielle Vigne« von der Domaine Fourrier (ca. 510 €). Der passt zur Megumi Gamo-Ente aus der Aichi-Präfektur, die zunächst am Tisch fertig gegart im Ganzen präsentiert wird. Mit ihrer goldbraunen, sichtlich knusprigen, glänzenden Haut erinnert die Zubereitung an klassische Peking-Ente.
Für diesen Gang jedoch tranchiert man klassisch französisch. Zwei rautenförmige Stücke der Ente liegen rosa gebraten auf dem Teller, nebst Kintoki-Karotte aus Kyoto, einer kugelrunden Kartoffel mit Lardo und einer Sauce Meurette. Die qualitativ herausragenden Zutaten lassen das Gericht richtig aufleben. Einer derart aromatischen Karotte begegnet man selbst als weitgereister Esser selten, auch die Kartoffel ist bemerkenswert geschmacksintensiv und von ansprechender Konsistenz. Das Gericht ist klar, fokussiert, leicht weihnachtliche Aromen sind stimmungsvoll und wohlschmeckend. Aber auch hier: die Ente ist einige Grad zu gering temperiert. Ein auffälliges Problem im Ablauf zieht sich heute durch die Küche. Dass Küchenchef Calvert heute nicht im Haus ist, ist vielleicht ein Wink mit dem Zaunpfahl. Glanzvoll ist das trotz allem. (8,5/10)
Als Nachtrag zur Ente folgt noch eine Entensuppe mit Chinakohl und Lauchöl. Entenbrust und kleine Stücke der goldbraunen Haut findet man ebenfalls darin. Was nach süffigem Umami-Genuss klingt, entpuppt sich jedoch als überraschend »flach«, mit linearem, recht salzbetonten Geschmacksbild – immer noch sehr gut, aber entfernt von Großartigkeit. (7/10)
Ein Wein muss noch her, nicht etwa passend zu den jetzt folgenden Desserts, sondern passend zur Stimmung am Tisch – die viel wichtigere Strategie bei der Weinauswahl. Die Entscheidung fällt schließlich auf einen 2014er Grange des Pères aus dem Languedoc (ca. 470 €).
Eine kühle Kombination von Avocadoeis, Gurkengranité und Ossetra-Kaviar leitet dann den Ausklang des Menüs ein – und überrascht mit rauchigen Aromen, weil irgendwo in der Kreation noch Katsuobushi mitverarbeitet wurde. Es sind gerade diese rauchigen Umami-Noten, die die Grenze zwischen herzhaft und süß verschwimmen lassen. Die elegante Speise setzt damit noch mal ein Ausrufezeichen hinter ein Menü, das ich zwischenzeitlich bereits fast beiläufig zu genießen begonnen hatte. (8,9/10)
Ein Millefeuille mit japanischer Bergamotte und einer Earl-Grey-Creme ist danach ebenfalls hervorragend – die Aromen der Zitrusfrucht und des Tees harmonieren perfekt. Das ist klassisches französisches Dessert-Handwerk, gepaart mit den faszinierenden Aromen japanischer Zitrusfrüchte. Ein bisschen »dröge« ist das – auf hohem Niveau – dennoch. (7,9/10)
Ein saftiger Gâteau Basque mit Mandeln und Kirsche (8/10) und ein köstlicher Brownie, der an eine Opéra-Schnitte erinnert (9/10), beenden schließlich das Menü, das mich deutlich weniger euphorisch zurücklässt als mein einstiges Mittagessen hier. Dass gerade jetzt drei Sterne vergeben wurden, wo inkonsistente Abläufe in der Küche so offenkundig sein können wie heute, überrascht. Auf einen neuen Versuch ließe ich es aber jederzeit wieder ankommen.