Eleven Madison Park – vegan, der kann

Es ist mein Ankunftsabend in New York, und was ich gelernt habe, ist, an solchen Abenden möglichst keine Reservierung für umfangreiche Tasting-Menüs im Kalender zu haben. Im dreifach besternten Per Se bin ich über einem Teller mit Trüffelpasta jetlagbedingt schon mal fast eingeschlafen. À la carte ist also angesagt, sodass man gehen kann, wann man möchte. Aus dem Plan wird heute nicht viel.

Wie der Zufall es will, befindet sich das Eleven Madison Park direkt gegenüber von meinem Hotel. Dass man in das berühmte Drei-Sterne-Restaurant auch zum Walk-in einkehren kann, hatte ich bereits im Voraus geklärt – ein bisschen Planung muss sein.

Die Bar, die direkt an den imposanten, offenen Speisesaal anschließt, hat eine etwas gedämpfte und rustikale Atmosphäre, ist aber gemütlich. Die offene Verbindung zum Hauptraum macht klar, dass hier dieselbe kulinarische Welt gilt – und auch dieselbe Weinkarte. Ich bestelle eine Flasche 2020er Pinot Noir »Wendling Vineyard« des kalifonischen Weinguts Littorai (240 $ netto, entspr. ca. 240 € brutto) und komme mit dem Service bezüglich erster kulinarischer Ideen ins Gespräch. Die Speisekarte enthält verschiedene Gerichte für im Schnitt etwa 40 $, von denen viele auch Bestandteil des aktuellen Menüs des Hauptrestaurants sind. Es ist auch ein etwas kleineres Tasting-Menü zu haben.

Küchenchef Daniel Humm sorgte vor einigen Jahren wieder für Schlagzeilen, als er ankündigte, fortan nur noch vegan zu kochen, oder plant-based, wie man hier sagt, um etwas cooler zu klingen. Der Coup ging auf: Das Eleven Madison Park behielt drei Michelin-Sterne. Allerdings: Vier Monate nach meinem heutigen Besuch wird Daniel Humm ankündigen, aus finanziellen Gründen auch wieder ein omnivores Menü anzubieten.

Die erste Speise, die ich probiere, ist ein Flammkuchen mit schwarzem Trüffel (65 $). Natürlich hat die Tarte nichts dem Geschmacksbild gemein, das viele dazu im Kopf haben mögen: Das Aroma der hier verwendeten, herausragenden australischen Wintertrüffeln ist tief, warm und von einer fast ätherischen Frische – erdig wie ein feuchter Waldboden nach Regen, mit feinen Noten von Kakao, Sellerie und Champignons. Mit dem synthetisch-stechenden Aroma von gewöhnlichem Trüffelöl hat das erwartungsgemäß rein gar nichts zu tun. Ein solches Spitzenprodukt derart intensiv verkosten zu können, ist ein seltenes Erlebnis. Dafür, dass hier sicherlich eine ganze Knolle verwendet wurde, ist das sogar erstaunlich preisgünstig. (9/10)

Mein offenes Interesse an der Küche blieb dem Service natürlich nicht verborgen. So entwickelte sich rasch diese besondere Dynamik, bei der plötzlich Gänge serviert werden, die man gar nicht bestellt hat. Natürlich nicht, ohne dass ich zuvor zu verstehen gegeben hatte, für solche Überraschungen offen zu sein. Über Kosten diskutiert man da nicht – immerhin sind mir die Preise hier bekannt. (Es steht später für das Essen ein Gesamtbetrag von 219 $ netto auf der Rechnung.)

Der nächste Gang ist eine dreiteilige Variation um das Thema Kartoffel. Eine Brühe aus geräucherten Kartoffeln, die mit Chili, Thymian, Yuzu, Zitrone und Petersilie »imprägniert« wurde, schmeckt pikant, umamitief und pendelt aromatisch zwischen Zitrusnoten und Erdigkeit – herausragend. (9/10)

Kartoffelsnack Nummer zwei ist eine Art Toast aus zwei Scheiben hauchdünnem, geschichtetem Kartoffelteig, die eine Füllung aus Grünkohl, Meerrettich und Dill einrahmen. Die leicht warme Temperatur, die luftige Knusprigkeit, etwas Fett und intensive grüne Aromen machen auch diese paar Bissen zu etwas Außergewöhnlichem (9/10).

Auch die dritte Formulierung begeistert: ein kunstvoll angerichteter, eher kühl servierter »Kartoffelsalat« mit Rübchen und einem aromatischen Sud mit Meerfenchel demonstriert höchst wohlschmeckend, wie viel Entwicklungsarbeit – teilweise über ein Jahr – in die einzelnen Kompositionen fließt, damit sie so ausgewogen und spannend schmecken wie diese. (8,9/10)

Bei einem komplett veganen Menü schmeckt man etwas genauer hin, ob einem nicht doch etwas fehlt – hier entsteht der Eindruck bislang an keiner Stelle. Das liegt vor allem daran, dass mit den Texturen und Aromen alle Sinne angesprochen werden: von flüssig bis knusprig, von fettig bis zart, von süß bis umami, von hellen Zitrusnoten bis zu waldiger Erdigkeit.

In diesem Sinn geht es weiter mit einem außergewöhnlichen Brotgang. Ein blättrig-luftiges Brötchen, das in Textur, Duft und Aussehen an eine Brioche feuilletée erinnert, jedoch vollständig ohne Butter gebacken ist – stattdessen mit einer Mischung aus Kokos- und Sojafett –, ist ein technisches Meisterstück. Dazu kommt eine »Butter«, die keine ist: eine rein pflanzliche Emulsion, aromatisiert mit karamellisierten Zwiebeln, deren süß-würzige Umami-Tiefe an braune Butter erinnert. Zusammen ergibt das eine so befriedigende, satte und auch (im besten Sinn) fettige Kombination, dass man nie auf die Idee kommen würde, dies als Substitut zu betrachten. Es ist tatsächlich einer der besten Brotmomente, die ich in einem Restaurant erlebt habe. (10/10)

Es folgt ein weiterer Gang, der sich – schon optisch – allem Gewöhnlichen entzieht. Tonburi, die Samen der Besen-Radmelde, auch Sommerzypresse genannt, sehen aus wie Kaviar und sind bei diesem Gericht mit einer Avocado-Mandel-Creme und eingelegtem Lauch optisch markant angerichtet. Das Gericht ist sensationell: Die kleinen, glänzenden Tonburi-Kügelchen platzen am Gaumen und präsentieren sich mit dezenter, nussig-grüner Würze, die tatsächlich an Kaviar erinnert, aber zugleich etwas Leichtes und Pflanzliches bewahrt. Die Avocado-Mandel-Creme bringt seidige Fülle und eine feine Süße ins Spiel, während der eingelegte, zarte Lauch einen Hauch Schärfe und Säure beisteuert. Zusammen entsteht ein vollkommen eigenständiges Geschmackserlebnis, das erneut nicht wie ein Ersatz wirkt, sondern wie eine neue Kategorie von Luxus. (10/10)

Noch immer nicht vom Jetlag beeinträchtigt – und dem Irrglauben verfallen, den Umfang des Menüs voll unter Kontrolle zu haben – sehe ich auch dem nächsten Gang entgegen. Der präsentiert sich in Form von bildhübsch geschichteten Scheiben von Shiitake-Pilz und Klettenwurzel auf gekochtem Reis. Etwas Minzöl wurde dazu angegossen, das sich in der gusseisernen, schwarzen Cocotte nur als subtiler, farbloser Glanz zeigt.

Das Reis-Pilz-Ensemble begeistert am Gaumen mit Merkmalen, die man sonst eher der japanischen Küche zuschreibt: luftig-lockerer, zugleich perfekt zusammenhaltender Reis mit feinem Biss, eine Temperatur wie von einem Sushimeister austariert und bemerkenswert aromatische Pilze mit tiefem, waldigem Umami. Die Minze rahmt hier nur ein und bringt etwas grüne Frische ins Spiel. Perfekt dazu, in einem separaten Schälchen: eingelegte Rübchen und Ingwer für einen selbst dosierten »Reset« am Gaumen zwischendurch. Absolut fesselnd. (10/10)

Für etwas Abwechslung sorgt eine Einladung in die Küche, wo ein kleines Pre-Dessert zubereitet wird. Hierfür wird etwas Ahornsirup auf einen »Schnee« aus Apfelsaft geträufelt und darin gewälzt: Fertig ist ein Lolli mit verblüffend hohem Genussfaktor. Eisig-kühle, körnige Frische trifft auf dichte, karamellige Süße, die helle Säure des Apfels kontrastiert die Wärme des Sirups. Perfekt. (9/10)

Das eigentliche Dessert besteht aus einem Trio süßer Kleinigkeiten. Ein in einer essbaren Mandarinenschale angerichtetes Zitronensorbet mit interessant »gummibärchenartigen« Tapiokaperlen und Zitronengranité erfrischt mit intensiven, orange leuchtenden Aromen; eine hauchdünne, kandierte Orangenscheibe mit Marmelade und Schokolade setzt die sommerlichen Aromen texturell filigraner, aber aromatisch breiter fort; und ein in einem hohen Glas servierter »Pomelo-Fizz« mit pflanzlicher Sahne und Aquafaba, dem Kochwasser von Kichererbsen, interpretiert einen Ramos Gin Fizz überraschend exzellent. (9/10)

Das Menü ist das beste, das ich im Eleven Madison Park bisher probiert habe. Der rosa Elefant im Raum – dass hier vollständig vegan gekocht wird – verliert angesichts des Erlebten jede Relevanz. Was hier zählt, ist nicht, was fehlt, sondern was da ist: eine Küche von großer Präzision, klarer Vision, Fantasie und emotionaler Kraft.

Ob man das auf dem Niveau aufrechthalten kann, wenn man künftig auch wieder tierische Produkte anbietet, bleibt abzuwarten. Doch gerade damit ist das Eleven Madison Park ein Spiegel von New York: Es erfindet sich immer wieder neu.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Eleven Madison Park (→ Website)
Chef de Cuisine: Daniel Humm
Ort: New York City, USA
Datum dieses Besuchs: 15.04.2025
Guide Michelin (New York City 2024): ***
Meine Bewertung dieses Essens 9 (Was bedeutet das?)
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