Moor Hall – lukullisches Lancashire
Nach vierstündiger Zugfahrt von London über Preston erreiche ich den verschlafenen Bahnhof Ormskirk in der Grafschaft Lancashire. Es dauert dann noch mal sechzehn Minuten, bis ein Uber kommt, um mich ins zweieinhalb Meilen entfernte Moor Hall zu fahren, Englands neuestes Drei-Sterne-Restaurant.
Schon bei der Auffahrt auf das Anwesen wird klar: Hier gibt es mehr zu entdecken als »nur« ein ausgezeichnetes Restaurant. Ein geschmackvoll restauriertes Gutshaus aus dem 16. Jahrhundert bildet das Herzstück, ergänzt um einen modernen, flach gehaltenen Neubau, der sich unaufdringlich anschmiegt. Daneben stehen weitere Backsteingebäude: eines davon beherbergt The Barn, ein weiteres, mit einem Stern ausgezeichnetes Restaurant; ein anderes ist das Räucherhaus für die eigene Charcuterie.
Eingebettet ist das Ganze in einen weitläufigen Garten, der nach würzigen Kräutern duftet und zum Erkunden einlädt. Kleine Wege schlängeln sich durch das Gelände und führen zu den Gartenhäusern – moderne, fast skandinavisch schlicht eingerichtete Bungalows, in denen man mühelos zwei Tage und zwei Nächte verbringen kann, ohne weitere Pläne zu schmieden.
Am Nachmittag bekomme ich schon den ersten Eindruck von der terroirgetriebenen Küche von Mark Birchall, einst Küchenchef im inzwischen ebenfalls dreifach besternten L’Enclume. Birchall erwarb das spektakuläre Anwesen im Jahr 2015 zusammen mit weiteren Eigentümern. Das Investment muss beträchtlich gewesen sein.
Auf einer kleinen Terrasse im Garten wird, angenehm ungefragt, eine hausgemachte Schweinspastete aufgetischt – fettig, gehaltvoll, mit Trauben und Pistazien und allerlei weiteren Zutaten, die für uferlosem Wohlgeschmack sorgen. Eine Karamelltarte, cremig und verführerisch, hängt danach die Messlatte für die Pâtisserie hoch. Ein 2012er Viña Tondonia Rosé Gran Reserva aus der spannenden Weinkarte ist auch schon im Glas (Flasche 195 £, ca. 230 €).
Den Abend beginnt man in gemütlichen Sofas an der Bar. Dort bereiten mehrere Köche die Einstimmungen vor und servieren diese persönlich an den Platz. Den Beginn macht eine kleine Auswahl an hausgeräucherter Charcuterie, wunderbar gehaltvoll, aber mit leichter Off-Note. (6,9/10).
Ein kleines Teigbonbon mit warmer Füllung aus Black Pudding, getoppt mit Stachelbeergel und Oxalis verführt danach mit süßlicher Herzhaftigkeit auf höchstem Niveau. (9/10)
Zum Augenschließen grandios ist auch eine Croustade mit gegrilltem grünem Spargel, Chorizo und Bergminze: knusprig, elegant, herzhaft, warm, minzig und mit perfektem Salzgehalt. (10/10)
Ein saftig-weicher English Muffin mit Stückchen von in Zitronenbutter gegartem Hummer, dazu Zitronenverbene und Pancetta, ist danach perfekt zwischen Süße und zitronig-kräuteriger Frische austariert. Ein Musterbeispiel in Balance und Understatement. (9/10)
Eine Art Aufstrich aus einer Mousse vom Kabeljaurogen, gelierter Hühnerconsommé und N25-Kaluga-Kaviar zu Kräutercrackern bietet elegante Räuchernoten, einen belebenden Salzkick und einen passenden Dill-Akzent. Weiterhin höchstes Niveau. (9/10)
Nach diesem deliziösen Auftakt gehört eine kleine Tour durch den Garten zum Programm, der schließlich in der Küche endet. Die Präsentation der heutigen Zutaten steht hier genauso auf der Agenda wie noch ein letzter Snack auf dem Weg zum Tisch: ein kleines Kartoffelnest mit geräuchertem Aal, fermentiertem Knoblauch und Blüten – ein komplexes Spiel aus Texturen, Temperatur und Umami, das die Einstimmungen hochpräzise und durchdacht abschließt. Phänomenal. (10/10)
Der Speisesaal selbst transportiert schick-rustikales Farmhouse-Flair. Von einigen Tischen aus kann man in die offene Küche blicken. Die Atmosphäre im Saal ist angenehm, das Personal bemerkenswert freundlich, souverän und in bester Laune. Hier beginnt man gerne ein mehrstündiges Mahl. Dies ist mit umgerechnet ca. 280 € auch noch verhältnismäßig günstig.
Den Auftakt macht eine kleine Portion mit Stücken von schottischem Kaisergranat, der mit einer Sauce mit eingelegten Erdbeeren glasiert wurde. Anstelle des erwartbaren Fruchtaromas steht bei der Glasur eine elegante, fruchtige Säure im Vordergrund, die ihr – hier ggf. unpassendes – typisches Erdbeeraroma für sich behält. Kombu und Rettich ergänzen das angenehm lauwarm temperierte Arrangement, das im Nachhall mit einer pfeffrigen Schärfe überrascht. Perfekt portioniert, wunderschön angerichtet und von herausragender Balance. (10/10)
Der nächste Gang wird erst am Tisch fertig gestellt. Hierzu hebt ein Koch eine pochierte Auster aus ihrer Schale, in der diese bereits ausgelöst und halbiert in einer Buttermilch-Dill-Sauce warmgehalten wird. Die Muschel stammt vom irischen Produzenten Louët-Feisser und wird in ein Nest aus hauchdünn gehobelter weißer Rübe und etwas frischem Dill gebettet – aber nicht, ohne zuvor eine »Grundlage« aus knusprigem Quinoa und flambiertem Lardo platziert zu haben. Das Ergebnis ist großartig: maritimes Umami trifft auf sanft-warme Cremigkeit, die durch die knackig-frischen, leicht süßlichen Gemüsenoten akzentuiert wird. Das ist äußerst fein ausbalanciert und ein absoluter Hochgenuss. (9/10)
Das folgende Intermezzo mit hausgemachtem Sauerteigbrot und verschiedenen Buttersorten gibt mir etwas Zeit, um mich dem Wein zu widmen. Aus der Karte, die große Namen aus Frankreich um sorgfältig kuratierte Entdeckungen aus Spanien, Italien und Übersee ergänzt – teilweise mit spannend gereiften Jahrgängen –, bin ich heute bei meiner Wahl ausnahmsweise bei Bordeaux angelangt. Der 1995er Château Cos d’Estournel ist mit umgerechnet ca. 500 € zwar kein Schnäppchen, dafür aber eine seltene Gelegenheit. Der Wein ist stilvoll gereift, mit tiefer, klassischer Bordeaux-Nase ohne jegliche Fehltöne.
Es geht weiter. Pariser Marktmöhre, eine alte, kugelrunde Möhrensorte, die hier im Garten wächst, wurde für das nächste Gericht in Salz gebacken und findet sowohl pur als auch in Form eines Pürees Verwendung. Ein würziges Bärlauchpesto, Sanddorn und eiskalter Käsestaub ergänzen die Süße und Dichte der Möhre mit Schärfe, Säure und salziger Tiefe. Das Ergebnis ist überraschend vielschichtig: warm und kühl, erdig und hell, sehr »karottig« und auch entfernt an ketchupartiges Umami erinnernd. Ein eindringliches Erlebnis. (9/10)
Das bisher überragende Menü präsentiert als nächstes ein Duo von Rübchen und Taschenkrebs. Hierzu ist das gezupfte Krebsfleisch von dünnen Scheiben weißer Sweetbell-Rübe und Radieschen ummantelt und mit Anis-Duftnessel und Sonnenblume drapiert. Dazu wird eine am Tisch finalisierte, mit Fichtennadeln aromatisierte Brühe aus geräucherten Rüben angegossen. Geschmacklich ist das erneut eine Offenbarung: Die Süße und Jodigkeit des Taschenkrebses trifft auf die pfeffrige, fast scharfe Frische der Rüben – eine Spannung, die durch die rauchig-tiefgründige Brühe geerdet und intensiviert wird. So entsteht ein komplexes Spiel aus Wärme, Kühle, Rauch und Frische – vollkommen harmonisch und gleichzeitig berauschend spannungsvoll. (9/10)
Achtzig Tage gereiftes Rind der Rasse Red Ruby Devon wurde für den folgenden Gang als Tatar zubereitet. Es ist in grobe Würfel geschnitten und mit gelber Pablo-Bete, Senfcreme und Schalotten – inklusive deren Asche – kombiniert. Eine Kapern-Marmelade ergänzt alles. Die kleinteilig angerichtete Kreation sieht auf den ersten Blick nicht nach einem Gang aus, für den ich mich gewöhnlich begeistern würde, doch der Schein trügt. Das tiefe, nussige Aroma des Fleischs – intensiv, aber nicht aufdringlich –, die Schärfe, Säure und Cremigkeit des Senfs und die rauchige Süße von den Schalotten – all das ist präzise austariert und kommt umamigeladen und fokussiert am Gaumen zusammen. Ganz groß. (9/10)
Dann: Tomaten. Tomaten aus Tarleton in West Lancashire – frisch und fermentiert, grün und rot, als Sauce und als Kompott mit Knochenmark. Sie umspielen ein Stück in Hagebutte glasierten Hummer und formen damit ein atemberaubendes Ensemble. Das Tomatenkompott ist warm, elegant süß, umami und leicht pikant, mit gehaltvollem Schmelz vom Knochenmark; die grüne Sauce bringt kontrastreiche Frische mit feinen Dillnoten. Dazwischen dann der knackige Hummer, so ideal portioniert wie ein Stück Schneekrabbe in Japan. Überhaupt haben die Zutaten hier regelrecht japanische Qualitäten. Aufwühlend großartig. (10/10)
Auch dem nächsten Gericht sieht man die Exzellenz an. In Nussbutter gegarter Steinbutt, dessen perlmuttartiger Schimmer auf eine umamiverstärkende Reifung hinweist, verspricht Großes. (Kein Vergleich bspw. zu der tristen, vakuumgegarten Tranche neulich in Rostock, was kein Fingerzeig sein soll, sondern wieder einmal die Wichtigkeit von Vergleichsmöglichkeiten hervorhebt.)
Der beispielhaft gegarte Fisch – fest, saftig und strukturiert – ist auf dem Teller von einer Muschelsauce mit Kaviar sowie weiteren Komponenten flankiert, unter anderem Artischocken, Blüten, Kräuter und Nashi-Birne. Meeresaromen, Umami und Salz gelangen hier auf üppige Weise zusammen – cremig und vollmundig, dabei aber immer mit Eleganz und Frische ausbalanciert. Auch die junge, aromatisch dichte Artischocke ist ein Highlight! Jedes Detail hat hier seinen Platz und seine Funktion. Ein weiterer Hochgenuss aus der bemerkenswerten Küche von Mark Birchall. (9/10)
Der letzte herzhafte Gang ist Saint-Sever-Perlhuhn gewidmet – eine renommierte Sorte aus dem Südwesten Frankreichs. Das Huhn wird zunächst im Ganzen am Tisch präsentiert (entweder, es handelt sich hierbei um ein Präsentationsexemplar, oder man hat den Hauptgang zeitlich auf alle Esser abgestimmt). Während man auf die finale Zubereitung wartet, wird man bereits mit einer kleinen Kostprobe versorgt. Die kommt in Form eines Schälchens mit einem Ragout aus der Keule und Innereien – süßlich, herzhaft, perfekt gewürzt –, ergänzt um eine Art grünlich-frische Kräutercreme und gratiniert mit einer Molke-Zubereitung mit käsiger Umamitiefe. Schon das ist großartig, mit einem souveränen Spiel zwischen Rustikalität und Haute Cuisine – und ist damit natürlich Letzteres. (9/10)
Bei der zweiten Zubereitung geht es wieder etwas filigraner zu. Ein Stück aus der Brust des Perlhuhns – mit knuspriger, goldbrauner Haut und altrosa, saftig-glänzendem Fleisch – steht einem Arrangement mit verschiedenen Kräutern, weißem Spargel und Morcheln gegenüber. Eine leichte, schaumige Vin-Jaune-Sauce verbindet Fauna und Flora. Das Geflügel selbst wird vom Service noch mit einem dicht eingekochten Jus auf Basis von Bärlauchkapern überglänzt, was dem zarten Fleisch eine konzentrierte Würze verleiht, es aber nicht damit überdeckt. Die Qualität fließt hier nur so auf höchstem Niveau. Auch hier wieder stechen die hocharomatischen Kräuter und der bissfeste, knackige Spargel hervor. Alles ist harmonisch, technisch makellos und mit einer filigranen Leichtigkeit ausgestattet, die fesselnd ist. Das Gericht reiht sich in die besten Geflügelgerichte ein, die ich je probiert habe. (10/10)
Und an Verschnaufen ist kaum zu denken – trotz idealen Tempos. Und der Genuss reißt auch mit einer Brioche nicht ab, zu der man eine Foie-Gras-Pastete mit Trüffelhonig auftischt. Die Pastete ist zwar durch den Honig leicht süß, aber noch viel mehr mit einer appetitanregenden Säure ausgestattet, die durch die Üppigkeit der Pastete und das buttrige Fett der Brioche schneidet. Uff.
Jetzt noch Käse? Unbedingt. Es gibt einen eigenen, kleinen Käseraum, aus dem man sich die Sorten selbst aussuchen kann. Besonders gefällt mir aber die Option, den Käse später – nach den Desserts – im Bereich der Bar zu genießen. Der vorgeschlagene Szenenwechsel ist eine kurzweilige Idee, auf die ich mich gerne einlasse.
Das erste Dessert ist dann eine Referenz an regionalen Lebkuchen (Ormskirk gingerbread), was die Form der weißen Masse erklärt, die die Kreation dominiert. Dabei handelt es sich um Ingwereis, das sich am Gaumen als deutlich weicher und cremiger entpuppt als ich es optisch vermutet habe. Dazu gibt es mit Pinie aromatisierten Honig und blattähnliche Gebäckstücke mit feinem Karamellgeschmack. Das enorm ausgeklügelte Zusammenspiel von cremiger Textur, warmer Würze, Karamell- und Honigsüße sowie ätherischen Aromen ist auf überraschende Weise überwältigend köstlich. (10/10)
Dessert Nummer zwei: Erdbeeren der Sorte Malling Centenary, kombiniert mit Frischkäsesorbet, Meringue-Segeln und »Schnee« aus Süßdolde. Das intensive, geradezu überzeichnete Aroma der Erdbeeren erinnert an japanische Qualitäten. Ihre weiche Konsistenz kontrastiert spannend mit den milchig-süßen Segeln, die am Gaumen sofort zerfallen, während die Süßdolde mit anisartiger Frische feine Kräuternoten beisteuert. Säure, Bitterkeit oder extreme Kälte fehlen – stattdessen entfaltet sich ein durch und durch klassisch-süßer Hochgenuss mit einer unvergesslichen Erdbeere als denkwürdigem Protagonisten. Verblüffend grandios. (10/10)
Dass man so etwas danach gleich noch mal abliefert, ist kaum zu glauben. Diesmal sind es Brombeeren als fruchtsüßes Sorbet, überzogen von einer mit Waldmeister und Muscovadozucker parfümierten Schlagsahne, gekrönt von einem Puder aus Sauerklee, feinen Karamell-Tuiles und in Pflaumen-Sake marinierten Brombeeren. Auch hier begeistern eine glücklich machende, aber ausbalancierte Süße, expressive Fruchtaromen und feiner Crunch. Traumhaft! (10/10)
Nach einem Abstecher in den kleinen, aber feinen Käseraum, klingt der Abend schließlich aus, wo er begonnen hat: in der entspannten Atmosphäre der Bar.
Die vier Sorten Käse, die ich gewählt habe, stammen alle aus England und sind mühelos auf dem Niveau der besten französischen Sorten. Man serviert dazu verschiedene Condiments, unter anderem eine Erfrischung in Form eines Apfelsorbets mit Mädesüß, Haselnuss und hausgemachtem Honig. Ein Glas Rotwein bestelle ich auch noch dazu. Berauscht vom Genuss der letzten Stunden versäume ich, ihn mir zu notieren. Es ist vielleicht das beste Zeichen für ein denkwürdiges Mahl.