Providence – in der Stimmung

Wenn man die Spitzenrestaurants von Los Angeles recherchiert, trifft man unweigerlich und zügig aufs Providence. Die zwei Sterne, die der Guide Michelin schon im Jahr 2009 hier vergab, bevor sich der Reifenhersteller für zehn Jahre aus der Stadt zurückzog, leuchten hier längst wieder.

Das Restaurant befindet sich in der Mitte der langen Melrose Avenue im Stadtteil Hollywood. Es ist, wie viele Orte in Los Angeles, auf den ersten Blick eine unscheinbare Gegend.

Ich bin angespannt. Es ist mein erstes Essen in geschlossenen Räumlichkeiten seit langem. Das mag manch Restaurantgast längst unbekümmerter sehen, aber ich habe in den kommenden zwei Wochen dieser Reise noch eine Agenda vor mir, die keinen Ausfall erlaubt.

Der Speisesaal zeichnet sich immerhin durch hohe Decken aus, mein Tisch hat einen angenehmen Abstand zu anderen Gästen, aber das Personal trägt keine Maske. Das ist hier derzeit auch nicht Pflicht, dennoch handhabt das jedes Restaurant hier anders. Und ob die Klimaanlage mit geeigneten Filtern ausgerüstet ist oder sogar Außenluft zuführt, ist fraglich. Neue Gedanken in einer neuen Zeit.

Ich beruhige mich etwas mit einem Primavera-Cocktail, bestehend aus Gin, Met, Zitrone und Minze (19 $, entspr. ca. 19 €). Cocktails bestelle ich eigentlich selten, aber die ansprechend gestaltete Aperitif-Karte stellt diese als flüssige Hausspezialität in den Vordergrund. Um das Weinthema auch gleich zu klären, fällt meine Wahl auf einen 2017er Pinot Noir »Estate« vom exzellenten Weingut Williams Selyem aus dem Sonoma County (350 $). Ich hatte mir die umfangreiche Weinkarte schon vorab per Mail zuschicken lassen und einige Optionen herausgesucht.

Ergänzend zur ansprechenden Aperitif-Karte, ist auch die Speiseauswahl in vielen Details besonders gelungen. Das einzig verfügbare tasting menu (295 $) ist zwar, außer beim Hauptgang, ein Menü mit feststehenden Gängen und von feststehendem Umfang. Doch zum einen verrät schon ein grobes Überfliegen der Speisen, dass alle Zutaten Grund zur Freude sind; und zum anderen existiert noch eine kleine Zusatzkarte. Diese mit »Should you be in the mood …« unaufdringlich betitelte Karte ist dabei nicht etwa eine plumpe Auflistung von teuren Add-ons, die einen immer glauben lassen wollen, die Gerichte wären erst dann perfekt, wenn man sie mit Trüffeln oder Kaviar überhäuft. Stattdessen sind hier zusätzliche kleine Gerichte aufgeführt, die zwar luxuriös sind (wir sind hier immerhin in einem Spitzenrestaurant), aber eben in sich abgeschlossene Speisen darstellen. Es gibt zum Beispiel verschiedene Austern- und Kaviarsorten, ein im Hühnerei serviertes Gericht mit Seeigel (uni egg), schwarzen australischen Wintertrüffel mit wahlweise Pasta, Risotto, als Omelette oder sogar als Trüffel-Brie, sowie – meine Auswahl – gegrillte Garnelen aus Santa Barbara (das Stück zum Marktpreis von 25 $).

Sein Menü derart ergänzen zu können, setzt voraus, dass die Gäste überhaupt »in the mood« für etwas sein können. Das klingt trivial, würde bei uns zulande aber schon oft daran scheitern, dass ein großer Teil der Klientel eines Spitzenrestaurants gar nicht »in der Stimmung« für bestimmte Zutaten ist, sondern nur für ein bestimmtes Erlebnis. Ob man australische Trüffeln lieber zu Pasta oder Risotto essen möchte; dass man den Genussfaktor einzelner, hochpreisiger Garnelen kennt; oder dass man sich ein uni egg vorstellen kann, setzt entsprechendes kulinarisches Wissen sowie die Fähigkeit voraus, überhaupt entsprechende Präferenzen zu haben. Es wird nicht das letzte Mal sein, dass mir auch auf dieser Reise in die USA derartige Dinge auffallen.

Jedenfalls bereitet das alles schon große Freude. Der Service ist charmant, locker, professionell und kundig, es darf jetzt auch gerne losgehen. Und, ja, der Pinot Noir darf auch schon gerne ins Glas.

Als erste Einstimmung wird eine Tartelette aus hauchdünnem, frittiertem Teig mit einem Tartar vom Kampachi (Augenstreifen-Bernsteinmakrele) aus Tokio und einer geleeartigen Rhabarber-Zubereitung serviert. Trotz des überraschend hohen Gewichts der Petitesse, schmeckt sie leicht, etwas cremig, zitrusfrisch und sommerlich. Die verschiedenen Texturen bereiten besonderen Spaß. Ein hochfeiner Start. (7,9/10)

Weiter gibt es in einem Teigschiffchen ein Wagyu-Tatar, dessen hoher Marmorierungsgrad sich eindrucksvoll in abwechselnd roter und weißer Farbe darstellt. Tupfen von Austern-Aioli und eine Creme von gegrillter Limone ergänzen das luxuriöse, perfekt abgeschmeckte Fleisch um frische Noten. Das Aioli erinnert dabei etwas an Senf, wie man es sonst von Tatar kennt. Die üppige Kleinigkeit spielt in der obersten kulinarischen Liga. (9/10)

Zwei weitere Amuse-bouche folgen noch. Das erste zeigt sich in Gestalt von hausgeräuchertem Lachs, der auf einem hohlen Roggen-Teigkissen angerichtet ist. Der Lachs schmeckt elegant und zünftig zugleich, etwas Rettichcreme und rohe Zwiebel unterstreichen eine Art Bodenständigkeit. Das ist sehr gut, aber eine Spur zu teiglastig, um hervorragend zu sein. (7/10)

Den Abschluss dieses ersten Eindrucks aus der Küche macht eine warme Hummer-Mousse, deren Textur mit der eines Eierstichs vergleichbar ist. Sie ist auf einem Cracker angerichtet, der aus einer intensiven Hummerbisque zubereitet wurde. Erdiger schwarzer Trüffel und auflockernder Schnittlauch beleben diese letzte hervorragende Köstlichkeit. (8/10)

Das Menü selbst beginnt mit einer gedämpften pazifischen Auster. Sie ist zerkleinert in ihrer Schale und in einer Champagner-Beurre-Blanc mit Schnittlauch angerichtet und mit einer üppigen Portion Kaluga-Kaviar bedeckt. Das Ensemble schmeckt nach Jod, Meer und Gischt, aber durch Garung und Buttersauce wird die maritime Intensität der Auster durch feinjustierte Balance ersetzt. Der kühle Kaviar kontrastiert dabei immer wieder kurzweilig die angenehm lauwarme Kreation. Das ist eine der besten Austernzubereitungen, die ich je probiert habe. (9/10)

Es folgt ein Sashimi von der Goldbrasse. Fünf Condiments – eine geschälte gelbe Tomate, »Ei-Dashi-Püree«, Sesamsalz, Pulver von Kirschblättern und Tomate – begleiten die drei Tranchen des Fischs, was dafür spricht, alles nach Belieben zu kombinieren. Man träufelt dazu noch etwas sizilianisches Olivenöl an. Schon die erste Scheibe des Fischs offenbart dessen hervorragende Qualität und Textur; die verschiedenen Würzungen, vor allem das Olivenöl, sind mir dabei aber etwas zu dominant. Das hier präsentierte Qualitätsniveau aller Zutaten lässt aber nicht weniger als ein nahezu hervorragendes Urteil dieses Gangs zu, der sich auf nachvollziehbare Weise nicht so recht zwischen Pazifik und Mittelmeer entscheiden möchte. (7,9/10)

Es folgt die tableside Zubereitung der von mir zusätzlich gewählten Garnelen. Ihre Herkunft, Santa Barbara, ist ein bedeutender Ort für Fischerei; einige der hochwertigsten in den USA erhältlichen Meerestiere werden hier an Land gebracht. Die Krustentiere wurden in einer Salzkruste in einer Kupferpfanne gegart und werden am Tisch aus dieser herausgearbeitet. Gekonnt werden die Tiere noch halbiert, mit etwas Olivenöl und Zitrone beträufelt und dann serviert. Das Zelebrieren dieser Zutat erinnert an die spanische Produktküche rund um die Garnelen aus Dénia. An Letztere gelangt diese nicht ganz heran, dennoch ist die saftige, nussig-süßliche Garnele mit in diesem Fall willkommener mediterraner Würzung ein seltener Hochgenuss. Es ist ratsam, an den Schalen, inklusive des Kopfes, noch etwas herumzulutschen. (7,5/10)

Die Küche schiebt überraschenderweise noch das uni egg hinterher (normalerweise zzgl. 35 $), eines der emblematischsten Gerichte des Restaurants. Wie die meisten Gerichte, die in einem Hühnerei zum Auslöffeln serviert werden, geht es auch hier um cremige, üppige Herzhaftigkeit. Dafür sorgen in diesem Fall eine Champagner-Beurre-Blanc, buttrige Brioche-Croutons, Seeigel und Schnittlauch. Einige Blüten und Kräuter bieten dazu noch einen erfrischenden, leicht bitteren Gegenpol. Ein wenig mehr nach Seeigel hätte das Ganze ruhig noch schmecken dürfen, aber dieses »Ei« spielt zweifellos mit höchsten Weihen. (8,9/10)

Zurück auf dem Pfad des regulären Menüs muss ich aber Seeigel nicht lange vermissen. Er dekoriert auf dem nächsten Teller eine kleine Teigtasche in Röhrenform, ähnlich wie Cannelloni, die mit einer Mousseline von Königskrabbe, Hummer, Garnelen und Shiitake-Pilzen gefüllt ist. Diese schon für sich allein betrachtet sündhaft gute Kreation ist eigentlich nur ein Begleiter zu einem Stück norwegischer Königskrabbe. Das Fleisch des edlen Tiers ist perfekt gegart und offenbart dessen eigenständige, zarte Textur und süßlichen Geschmack. Süße Erbsen und eine schaumige Sauce mit Kräuteröl, die mit gereiftem Schinken aromatisiert wurde, komplettieren diese famose Demonstration von bemerkenswertem Handwerk und einigen der besten Sorten Krustentier, die man überhaupt probieren kann. Bei aller Exzellenz ergibt sich aber auch ein etwas homogenes Geschmacksbild, bei dem nicht immer ganz klar ist, welche der Komponenten wirklich im Vordergrund steht. (8/10)

Nicht so beim nächsten Gang, bei dem eine große, in der Pfanne gebratene Jakobsmuschel aus Massachusetts der Star ist. Die Muschel hat ein intensiv nussiges Aroma und eine fleischige, zarte Textur, bei der schon das Anschneiden Freude bereitet. Auf der Muschel findet man kleine Streifen von Sellerie und Toro de Oro-Paprika, die eine leichte, freche Schärfe hinzufügt. Zusammen mit einem luftigen Espuma von brauner Butter und etwas »erdenden« Pfifferlingen hat dieser Gang nicht nur wegen seines grandiosen Hauptdarstellers die Klarheit, die mir beim vorherigen Gang fehlte. Das ist unstrittige Weltklasse. (9/10)

Auch der nächste Gang mutet wunderbar an. Ein Fisch aus der Familie der Stachelbarsche (vermilion rockfish), erneut aus Santa Barbara, ziert in Form eines länglichen Filetstücks den Teller. Besonders appetitanregend ist die knusprige, gegrillte Haut – ohne Schuppen, dafür mit deutlichen Röstspuren und fettigem Glanz. Das knisternde Geräusch beim Anschneiden bereitet mir eine regelrecht kindliche Freude. Das Fleisch selbst lässt aber kurz den Wunsch aufkommen, dass der Fisch noch eine Spur saftiger sein dürfte. Hier kommt schnell der Bouillabaisse-Jus zur Hilfe, der mit seidigem Glanz und betonten Anisaromen brilliert. Weitere Zutaten wie (sich zum Verwechseln ähnlich sehende) Borlotti-Bohnen und schwarze Oliven, im Ganzen und als Pürees, Letztere auch aus »Celebrity«-Tomate und Aubergine, ergeben einen weiteren Fischgang zum Schwärmen. Trotz des südfranzösischen Geschmacksbilds ist es erstaunlich, wie »pazifisch« der Gang daherkommt, was allein der Fischsorte und der Zubereitungstechnik zuzuschreiben ist. (8,5/10)

Für den Hauptgang gab es drei Optionen: kalifonischer Lachs mit Trüffeln und pommes allumettes; Entenbrust des renommierten Zulieferers Liberty Farms mit Kirsche und Rillettes; sowie, meine Wahl, Kagoshima-Rind der Qualitätsstufe A5 (zzgl. 40 $). Das japanische Ausnahmerind präsentiert sich in Form eines quaderförmigen, länglichen Stücks und ist von einem Steinpilz, confierter Tomate und einer mit geschmortem Rind gefüllten Kürbiszubereitung begleitet. Es ist ein bisschen ironisch, dass in einem auf Meerestiere spezialisiertem Restaurant das Fleisch leider misslingt. An der Güte eines Wagyu-Rinds aus Kagoshima lässt sich zwar naturgemäß wenig schrauben, aber das Fleisch ist vollkommen versalzen. Das ist sonderbar, man sieht nicht einmal irgendwelche Salzflocken auf dem appetitlich glänzenden Stück. Doch es schmeckt fast so, als hätte jemand vor dem Garen einen Topf Salz darauf verschüttet. Hier ist zweifellos irgendein Missgeschick passiert. Die Beilagen sind für sich betrachtet sehr gut, wenngleich ich die eher mediterrane Komposition zu japanischem Rind nicht optimal finde. Ein Ausrutscher, den ich genüsslich mit meinem Pinot wegschwenke. Es ist nicht die Situation, um irgendetwas zu reklamieren. (6,9/10)

Das erste Dessert ist ein sehr präzise gearbeitetes, »dichtes« Holunderblütensorbet, zu dem drei marinierte Himbeeren perfekt passen. Shiso-Blüten sind hier das entscheidende Zünglein an der Waage, um die prononcierte Süße mit floralen Aromen zu ergänzen. Schlicht und hervorragend. (8/10)

Hausgemachte Schokolade aus hawaiianischen Kakaobohnen ist Thema des nächsten Desserts. Sie wurde zu mehreren Zubereitungen verarbeitet: einem Küchlein ohne Mehl mit Schokoladenganache-Füllung, Schokoladen-Meringue und einem Kakao-Segel. Dazu passen ein Bananeneis und Rum-Rosinen so gut, wie ich es in kaum einem Dessert mit der oft unausgewogenen Kombination von Banane und Schokolade  je erlebt habe. Vielschichtige Texturen mit appetitlichen knusprigen Elementen, Cremigkeit, Süße, anspruchsvolle Bitterkeit, Kälte und Wärme ergeben einen hervorragenden Abschluss. (8/10)

Mehr schaffe ich jetzt auch nicht. Die noch folgenden Petitessen werden daher ansprechend verpackt und dienen mir morgen als kleiner Frühstückssnack. Draußen leuchtet das Providence stimmungsvoll in der Dunkelheit. Am I in the mood? Ja, für so ziemlich alles, das noch folgt.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Providence (→ Website)
Chef de Cuisine: Michael Cimarusti
Ort: Los Angeles, USA
Datum dieses Besuchs: 14.07.2022
Guide Michelin (California 2021): **
Meine Bewertung dieses Essens: 8 (Was bedeutet das?)
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