n/naka – zwischen L.A. und Kyoto

Ganz zum Schluss kommt Niki Nakayama doch noch mal aus ihrer Küche an den Tisch. Gäste, die extra aus Deutschland anreisen, sieht man hier auch nicht alle Tage. »Extra« ist zwar übertrieben, immerhin wäre ich diese umfangreiche Reise auch ohne eine Reservierung im n/naka angetreten. Allerdings ungern.

Das n/naka öffnet seine Reservierungen immer sonntags um 10 Uhr Ortszeit, ungefähr einen Monat vor dem gewünschten Reservierungsdatum. Den exakten Tag, an dem man für sein Wunschdatum reservieren kann, findet man über die Website und den dortigen Link zum Reservierungssystem Tock heraus. Ausnahmsweise wird bei der Reservierung hier nicht gleich der gesamte Menüpreis von 310 $ fällig (ca. 310 €), sondern nur eine (gleichwohl nicht stornierbare) Anzahlung in Höhe von 100 $. Das ist ungewöhnlich für ein derart populäres Restaurant, das es sich zweifellos auch erlauben könnte, den gesamten Menüpreis im Voraus zu kassieren. Vielleicht ist diese Zurückhaltung in einer Art japanischen Bescheidenheit begründet, die Niki Nakayama von ihren japanischen Eltern mitbekommen hat, als sie in den 1970er- und 80er-Jahren hier in Los Angeles aufwuchs.

Auf jeden Fall habe ich am richtigen Tag um 19 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit die Reservierungsseite des n/naka geöffnet. Um 18:59:59 Uhr bin ich noch voller Hoffnung, zwei Sekunden später, um 19:00:01 Uhr, frustriert, als alle Tickets für meinen möglichen Buchungszeitraum nur noch eine Wartelistenoption anzeigen. Ich trage mich zwar artig überall ein, weiß aber in Anbetracht des unflexiblen Reservierungssystems, dass meine Chancen nichtig sind. Eine längere emotionale E-Mail und einige Tage später bekomme ich aber tatsächlich noch eine Option auf eine Reservierung. Einige Wochen später, an einem Freitag, stehe ich dann vor der Tür.

Das n/naka ist, wie die meisten Gebäude in Los Angeles, flach und unscheinbar. Die gepflegten kleinen Bäume vor der grauen Fassade weisen allerdings schon auf etwas Besonderes hin.

Schließlich trete ich ein – in eine andere Welt. Japanische Restaurants sind in der Regel in sich abgeschlossene Sphären, ohne Fenster und ohne Ablenkung, so auch das n/naka. Aber das Restaurant ist nicht bloß »japanisch«. Niki Nakayama serviert hier ihre Interpretation einer mikrosaisonalen Küche mit Produkten aus Kalifornien und Japan. Kalifornien ist ihre Heimat, ihr Terroir, und die Kaiseki-Küche ihr Medium, so die Worte in der Menükarte, die man nach dem Essen erhält.

Es ist etwas gedrungen hier, aber hell und freundlich. Nakayama und ihr Team agieren unsichtbar in der Küche hinter einer Milchglasscheibe.

Ich bin erleichtert und glücklich, hier zu sein, gespannt sowieso, angespannt auch ein wenig. Ich werfe zunächst einen Blick in die überschaubare Weinkarte und werde bei einem 2019er Chassagne-Montrachet 1er Cru »Les Chenevottes« von der Domaine Armand Heitz fündig (210 $). Von den zweiundzwanzig angebotenen Weißweinen stammen fünfzehn aus Frankreich, davon fast alle aus dem Burgund, der Rest verteilt sich auf Kalifornien und drei deutsche Rieslinge. Der Burgund-Fokus ist in einem derart weltläufigen Restaurant gängig – und mir sowieso willkommen.

Nach dem Abnicken, dass wirklich keine Allergien und Unverträglichkeiten vorherrschen, beginnt das Menü.

Beim ersten Appetizer dient die Blüte einer Sonnenblume als Untergrund für einen knusprigen Sonnenblumenchip. Der schmeckt leicht süßlich, sommerlich. Die eigentliche Hauptzutat, um die sich dieser Einstieg jedoch dreht, ist eine Jakobsmuschel aus Hokkaido. Man findet sie roh mariniert in einem zweiten Schälchen im Zusammenhang mit einer aromatisch komplexen Komposition mit Austern-Aioli, Gelee von fermentiertem Spargel, »Staub« von Jakobsmuschelrogen, Bete, Karotte und Kaviar. Das kühl servierte Gericht begeistert mit einer grandiosen Muschelqualität und einem spannungsvollen Spiel mit unterschiedlichen Säuregraden und Texturen. (8/10)

»Gang« zwei – man muss diesen Begriff wegen der aufwändigen Arbeiten, die folgen, wirklich in Anführungszeichen setzen – steht im Namen von Zensai, einer Vorspeisenvariation der traditionellen Kaiseki-Küche. Es gibt ein Tartar vom Wagyu-Rind mit Shishito-Pfeffer – gehaltvoll, fettig, wie Steak und Paprika vom Grill –, einen alkoholfreien »Mojito« mit Wassermelone, Limone und Shiso – wunderbar erfrischend, zum Eindruck eines sommerlichen Grillabends passend und mit der aromatischen Magie des Perillablatts –, hausgemachten Tofu mit Edamame und »Soja-Ingwer« – mysteriös bitter und mit spannenden Texturen –, Mais, Kürbis und Yuzu-Ponzu – ätherisch, mit aromatischen Parallelen zu Anis –, einen winzigen Salat mit Tomate und Okra – kühl, elegant und so umami, dass die Kombination geschmacklich an Sushi erinnert –, Aal mit Foie Gras – zart-knusprig und süß – sowie Seeigel aus Santa Barbara mit Abalone – eine himmlische Kombination. Vielfalt, Optik, Handwerk und Qualitäten verschlagen mir glatt die Sprache. Das hier ist hohes Kaiseki-Handwerk, mikrosaisonal, hyperregional, megaemotional. (8,9/10)

Nach diesem Konzert an Köstlichkeiten, das in anderer Portionierung und Abfolge schon nahezu ein ganzes Menü hätte darstellen können, geht es etwas übersichtlicher weiter. Thunfisch aus den Gewässern um Hawaii ist hier roh mit hauchdünn geschnittenem Fenchel und japanischer Yamswurzel kombiniert. Um gewöhnliches Sashimi, sofern man in der japanischen Küche überhaupt von so etwas sprechen kann, geht es hier jedoch nicht. Zwar sind Schmelz und Geschmack des Fischs für sich betrachtet schon überragend, doch gerade die Kombination mit der Yamswurzel liefert sowohl abwechslungsreiche Texturkontraste als auch eine Verstärkung des »Thunfisch-Schmelzes« durch den stärkehaltigen, fast öligen Saft der Pflanze. Eine mit Seeigel aromatisierte Sojasauce sorgt dazu für abrundenden Umami-Geschmack. (8/10)

Die traditionelle Kaiseki-Küche sieht nach einigen Einstimmungen eine Suppe, genannt Owan, vor. Entsprechend folgt ein Schälchen auf Basis eines klar und rauchig duftenden Dashis. Es ist ein fast meditativer Moment, wenn man zunächst die heißen Dämpfe einige Sekunden auf sein Gesicht einwirken lässt. In dem Dashi, das schon für sich allein wunderbar ist, schweben Wolfsbarsch, Ume, Aubergine, Junsai (Schleimkraut, eine Wasserpflanze) und Lotuswurzel. Ich entdecke Umami, Salz, Rauch und ein Zusammenspiel an fremdartigen Texturen. Das ist geheimnisvoll, vielschichtig und zum Tiefdurchatmen gut. (8/10)

Mit Otsukuri folgt klassisches Sashimi, hier nun in Form von kalifornischem Bonito, Meerforelle aus Tasmanien und japanischer Seebrasse. Der Teller ist unscheinbar und könnte in vielen mittelmäßigen Sushi-Restaurants auf den ersten Blick ähnlich aussehen. Aber die Exzellenz steckt im Detail, zuvorderst natürlich in der überragenden Qualität der Fische. Textur, Schmelz, Klarheit, schon diese Attribute sind bei allen beinahe überzeichnet. Dazu gibt es frisch geriebenen Wasabi und das exotische, unverwechselbare Aroma eines saftigen Perillablatts. Herausragend. (8,5/10)

Das Menü geht weiter mit über Binchōtan gegrilltem Aal. Zwei Teile von diesem, hübsch in zu einer Art Tüte gefaltetem Blattwerk angerichtet, kommen mit einer Sudachi-Butter-Vinaigrette, »Yuzu-Paprika« und Lotuswurzel. Die gefällige Üppigkeit des Aals mit dessen knuspriger Haut wird hierbei einerseits durch die Buttersauce unterstrichen, andererseits durch die verschiedenen Zitrusfrüchte mit ihren floralen Aromen sowie einen Hauch Schärfe wieder reduziert. Es ist ein weiterer fabelhafter Gang auf Spitzenniveau. (8,5/10)

Und es wird noch besser. In einem herzhaft duftenden Dashi findet man beim nächsten Gang eine zunächst seltsam anmutende Kombination von Reis, Omelett und Krebsfleisch. Das sieht massig aus, aber alle Befürchtungen in diese Richtung lösen sich am Gaumen in Wohlgeschmack und Leichtigkeit auf. Der etwas klebrige und mit Kirschblüte aromatisierte Mochi-Reis sorgt für »Substanz« und bringt einen Hauch Süße ins Spiel, die perfekt als aromatische Überleitung zu dem Fleisch zweier sehr regionsspezifischer Krebsarten passt – Haar-Krabbe aus Hokkaido und Braune Königskrabbe aus Kalifornien. Dazu gibt es ein Stück Tamagoyaki, ein geschichtetes Omelett, dessen sichtbare Maserung an den Schnittkanten die aufwändige Zubereitung preisgibt. Das gesamte Gericht, dessen Leitmotiv Mushimono »Gedämpftes« bedeutet, ist eine unbeschwerte Gaumenwanderung durch Texturen, flüchtigere sowie nachhaltigere Aromen wie bei einem Parfüm und, durch die zwei Krebssorten, auch eine Repräsentation von Nakayamas japanisch-kalifornischen Wurzeln. Ein ergreifender Gang. (10/10)

Kurioserweise ist die folgende Kreation mit Spaghetti eine der bekanntesten von Nakayama. Hierbei findet man eine Nocke der bissfesten Nudeln ummantelt von einer cremigen Sauce auf der Basis von Eigelb, gebratener Abalone und getrocknetem Rogen. Abgerundet wird die herzhafte Pasta mit einigen (nicht am Tisch) gehobelten Trüffelscheiben, und hier wird es etwas sonderbar. Einerseits handelt es sich ganz offenkundig um Sommertrüffeln, die nicht besonders aromatisch sind; dazu passt jedoch nicht das recht dominante Trüffelaroma, das über dem Gericht schwebt. Vielleicht wurde hier mit etwas Trüffelöl nachgeholfen, um das populäre Gericht immer auf gleiche Art vorhalten zu können, ohne von den verschiedenen Trüffelsaisons abhängig zu sein. Der Gang ist in Summe immer noch sehr gut, allerdings nur wegen der interessanten und sehr schmackhaften Carbonora-ähnlichen Sauce mit Abalone. Etwas Rettich und einige Kräuter balancieren das üppige Gericht auch noch etwas aus. (7/10)

Es geht wieder begeisternder weiter. An ein butterzartes Stück Miyazaki-Rind der Qualitätsstufe A5 schmiegen sich beim nächstem Gang gerösteter kalifornischer Pfirsich, Babymais und ein zitrusfrisch angemachter Raukesalat. Diese drei Zutaten bringen puren Sommer auf den Teller; das Fleisch zelebriert mit charmanten Röstnoten, die von einem Zwiebel-Crumble noch unterstrichen werden, sowie einer angenehm kleinen Portionierung eine dazu passende Leichtigkeit. Eine einfallsreiche Kreation von hervorragender Umsetzung. (8,9/10)

Mit Sunomono folgt eine kleine Gaumenerfrischung in Form von mit Essig angemachten Scheiben von knackig frischer Gurke, Tomate, Weintrauben und einem Shiso-Eis. Irgendein rauchiges Aroma gesellt sich auch noch zu dem zwischen Umami, Süße und Säure pendelnden und nicht weniger als hervorragenden Zwischengang. (8/10)

Doch wer jetzt Desserts erwartet, liegt falsch. Es folgt noch eine komplette Abfolge mit Nigiri-Sushi. Es gibt zuerst Kinmedai (Glänzender Schleimkopf), Ōtoro (fettiger Thunfischbauch) und Shima aji (Stachelmakrele). Diese Fischarten allein versprechen bereits ein Nigiri-Erlebnis allererster Güte. Der Reis selbst ist im Vergleich zu japanischem Sushi deutlich weniger essigbetont, auch wird so manch japankundigen Gästen nicht entgehen, dass man in gehobenen japanischen Restaurants niemals Nigiri-Sushi aus der Küche an einen Tisch servieren würde, sondern immer nur über die kurze Distanz aus der Hand eines Sushi-Meisters direkt zum davor sitzenden Gast. Dennoch gelingt Nakayama ein Nigiri-Sushi von höchster Qualität, das sich vor nichts verstecken muss. Eine zweite Portion enthält Aji (Bastardmakrele), Akamutsu (eine Barschart) und ein besonders großartiges gunkan maki, gefüllt mit Seeigel, Lachsrogen und Perillablatt. Ein Krustentiersüppchen, leicht und doch intensiv, rundet diese noch einmal umfangreiche Darbietung ab. (8,9/10)

Es folgen noch zwei Desserts, fruchtbetont, wie in der japanischen Küche üblich. Ein Schälchen mit einem Sorbet aus Wassermelone und Limette sowie Würfel aus komprimierter Wassermelone bringen das Aroma der sommerlichen Frucht unmissverständlich auf den Punkt (8/10), danach sorgt ein dekonstruiertes Kakigori (japanisches Kratzeis) dafür, dass man selbst nach diesem umfangreichen Menü fürchtet, bald beim letzten Löffel dieser Köstlichkeit angekommen zu sein. Pfirsich, unter anderem als »Panna Cotta« und Sorbet, Kokossahne, Shiratama (Klebereisbällchen) mit Rote-Bohnen-Paste und Brauner-Zucker-Sirup aus Okinawa folgen der Tradition von Anmitsu, eine besonders in Kyoto beliebte Dessert-Art. Es schmeckt süß und kurzweilig, nach Pfirsich und Gummibärchen. (8/10)

Ein Matcha-Tee und einige Pralinen beenden nach angenehmen zweieinhalb Stunden eines der japanischsten Menüs, die ich außerhalb Japans bisher genossen habe. Für solche Erlebnisse muss man als Europäer weit reisen. Im n/naka gibt es keine Fusionsküche, aber gleichwohl eine Küche, die bei aller japanischen Authentizität auch die kulinarischen Qualitäten Kaliforniens spürbar respektiert. Als Niki Nakayama an den Tisch kommt – eine zierliche, fast scheue Person – ringe ich kurz nach Worten, um das Erlebte angemessen zusammenfassen. Als ich ihr dann gestehe, dass schon das Omelette die weite Reise aus Deutschland wert war, ist sie auch unter ihrem Mundschutz sichtlich erfreut.

Sie verschwindet schnell wieder in der Küche und ich hinaus in den Abend. Die unscheinbare Straßenecke in Los Angeles’ Stadtteil Westdale, an der Grenze zu Culver City, sieht jetzt ganz japanisch aus.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: n/naka (→ Website)
Chef de Cuisine: Niki Nakayama
Ort: Los Angeles, USA
Datum dieses Besuchs: 15.07.2022
Guide Michelin (California 2021): **
Meine Bewertung dieses Essens: 8,5 (Was bedeutet das?)
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