Harbor House Inn – das Salz von Mendocino

Die Route steckt schon voller Erinnerungen. Als auf den grünen Straßenschildern der Ort Healdsburg aufblitzt, siebzig Meilen nordwestlich von San Francisco, werde ich wehmütig. Das pittoreske Dorf beherbergt das SingleThread, ein wunderschönes Boutique-Hotel mit bewegender, inzwischen dreifach besternter Küche. Dieses Mal habe ich andere Pläne, doch den Ort rechts liegen zu lassen, fühlt sich falsch an. Genauso falsch, wie zehn Minuten später nicht in Geyserville abzubiegen, um die letzte Gelegenheit zu nutzen, doch noch in Richtung Napa Valley umzudrehen. Es ist ein überflüssiger Gedanke, schließlich werde ich morgen schon dort sein. Morgen – das ist zum Glück noch ganz fern.

Nach Geyserville dünnen die Erinnerungen aus, da ich hier noch nicht gewesen bin. Die Szenerie verändert sich wie im Zeitraffer. Aus vierspurigem Highway durch ausgetrocknetes Flachland mit knapp vierzig Grad im Schatten wird eine kurvige Landstraße durch etwas mehr Grün; aus kurviger Landstraße wird eine anspruchsvolle Serpentinenroute durch einen schattigen Wald mit Mammutbäumen. Es ist zwanzig Grad kühler als noch bei Geyserville.

Drei Stunden nach meiner Abfahrt in San Francisco komme ich an. Der Ort heißt Elk und befindet sich direkt an einer felsigen Klippe zum Pazifik. Es gibt kein Mobilfunknetz. Immer wieder ziehen Nebelschwaden durch die Landschaft. Greifvögel kreisen am Himmel, und die Felsstrukturen unten im Meer sehen aus wie für eine Filmkulisse ersonnen. Dazwischen das Harbor House Inn, ein uriges, sehr komfortables Anwesen mit einem derzeit vielbeachteten Zwei-Sterne-Restaurant.

Den Nachmittag verbringe ich überwiegend mit fassungslosem Staunen – über Landschaft, Einrichtung, Gastfreundschaft, Wildtiere, Flora, das Meer und die Felsen – sowie mit dem Genuss eines köstlichen Käsetellers zu einer Flasche 2016er Chardonnay »Elanus« des exzellenten Weinguts Peay – ganz in der Nähe von Geyserville. Der Wein duftet aufregend nach mediterranen Kräutern und schmeckt leicht salzig, ein zufälliger Vorbote für die Küche.

Der Gastraum des Restaurants befindet sich im Haupthaus des Anwesens. Das Harbor House Inn wurde vor über hundert Jahren von einem Holzunternehmen als Vorzeigeobjekt erbaut – aus genau den Redwood-Mammutbäumen, deren Optik auch den gemütlichen Speisesaal prägt. Das Essen beginnt hier für alle früh, um 18 Uhr, und ist damit perfekt auf den baldigen Sonnenuntergang abgestimmt.

Mein Blick schweift immer wieder hinaus über die große Terrasse und weiter auf den Pazifik. Ich weiß nicht genau, was mich hier gleich erwartet. Aber ich wäre die neuntausend Kilometer hierhin geflogen, nur, um das herauszufinden.

Der Tisch ist schlicht eingedeckt – in der Regel ein gutes Zeichen. Man findet ein Essstäbchen auf einer Abaloneschale, eine graue, gefaltete Serviette, ein Erfrischungstuch auf einem Minzsträußchen, ein Wasserglas sowie, in einem Umschlag, einige grafisch ansprechend gestaltete Informationen über das Haus und die Küchenphilosophie.

Das Menü selbst bleibt eine Überraschung, zu dynamisch sind hier die Zutaten des Tages, die fast in Gänze aus der nahen Umgebung stammen. Der Menüpreis wird bei der Reservierung des Aufenthalts über Tock vorbezahlt und beträgt inklusive Steuern 264,30 $ (ca. 264 €).

Der erste Gang ist ein Schälchen mit Zwiebelbrühe, kühl und mit einigen Fettaugen gespickt, darin verschiedene Sorten Rübchen, Rettich, Kohl, Zucchini und einige Blüten. Alles stammt aus dem Hausgarten. Die Gemüse sind von einer Frische, die einem regelrecht entgegenspringt. Der Duft, der kühlen Gerichten entweicht, ist von einer ganz anderen, »klareren« Qualität als von heißen Gerichten. Die leichte Zwiebelbrühe erinnert dabei an ein Dashi, mit dem feinen Unterschied, dass die Geschmacksqualität, die hier hauptsächlich angesprochen wird, salzig ist und nicht umami. Man zieht sofort Parallelen zum Salz des Ozeans. Traumhaft gut. (8,9/10)

Die nächste Schale, ähnlich schlicht, ähnlich hübsch, präsentiert gebeizten Lachs und geröstete Gurke in einer leichten Tomatenessenz. Der Lachs weist einen buttrigen Schmelz und eine dichte Konsistenz auf. Das unscheinbare Detail, dass die Scheiben gefaltet sind und man sie auch genauso zum Gaumen führt, verstärkt das »fleischige« Empfinden. Das Grillaroma der Gurke – alles nach wie vor kühl und, wie zuvor, von bemerkenswerter Klarheit – ist dazu eine unerwartet harmonische Ergänzung. Das Tomatenwasser, das durch die Zugabe von etwas Öl geschmacklich an eine Vinaigrette erinnert, rundet den qualitativ und aromatisch bemerkenswerten Gang ab. (8,5/10)

Im Glas ist noch etwas von dem Peay Chardonnay (280 $) von heute Nachmittag, während ich bereits überlege, wie es an dieser Front weitergeht. Der sympathische Sommelier empfiehlt zur Überbrückung ein sehr besonderes und nur in kleinen Allokationen zugeteiltes Bier, ein Baronesse Pilsner Style Lager von der Brauerei Hanabi Lager Co. aus Napa. Es schmeckt komplex, floral und leicht nach Kamille, eine wahrhaftige Offenbarung.

Das Bier begleitet einen Gang mit Seeigel (aus Fort Bragg, einige Meilen die Küste hinauf) auf einem geschnittenen Chawanmushi und einem gelierten Fond aus Lappentang. Wer viel in den Spitzenrestaurants dieser Welt herumkommt, wird derzeit oft vergleichbaren Zubereitungen begegnen. Man kann das repetitiv finden – oder als Trend abtun –, doch ich bekomme davon kaum genug. »Davon«, das ist in diesem Fall ein bilderbuchartiges Exemplar einer Seeigelgonade, bei der man versteht, warum diese deliziöse Zutat auch »Zunge« genannt wird. Ihre angenehme Geschmackswelt rund um Süße, Umami und Salz sowie Aromen von Ozean und Alge passen perfekt zu den Aromen der Alge. Es ist ein zutiefst zufriedenstellender Gang voller Harmonie, einem herausragenden Hauptprodukt und dem Geschmack des Ozeans. (9/10)

Für den nächsten Gang werden vier Teller und Schälchen aufgetischt. So gibt es ein Tempura vom Maitake-Pilz, dessen makelloses Frittierhandwerk man ihm bereits ansieht. Man streift ihn über ein Stück Meyer-Zitrone und erhält am Gaumen ein Erlebnis, das entfernt an frittierten Tintenfisch erinnert. Mit einer hauchdünnen, luftigen Kruste, dem besonders aromatischen Pilz und einem Hauch der Zitrusfrucht ist das hier jedoch deutlich eleganter.

Die zweite Kreation dieses Gangs ist eine Zubereitung um die kuriose Zutat lace lichen (»Spitzen-Flechte«). Es handelt sich bei dieser in Nordamerika heimischen Flechte um eine in Bäumen auffindbare Symbiose aus Algen und Pilzen mit netzartiger Struktur. Sie ist eine der wichtigsten Nahrungsquellen für die hier lebenden Wildtiere. Wie man auf die Idee kommt, diese skurrile Zutat zu verarbeiten, ist eine Frage, aber es ist eine ganz ausgezeichnete Idee. Gerade mit dem dazugegebenen Sesam erinnern die dünnen Fäden geschmacklich an Algensalat. Eine intensive, aber elegante Pilzbrühe mit einigen Blüten fügt sich nahtlos in diese Trilogie ein, die den Grundgeschmack Umami in unterschiedlichen Nuancen thematisiert. Herausragend. (9/10)

Inzwischen habe ich auch den nächsten Wein im Glas, einen 2014er Nuits-Saint-Georges 1er Cru »Les Perrières« von der Domaine Robert Chevillon (425 $). Die letzte Flasche eines zuvor geöffneten 2013er-Jahrgangs hatte irgendein nicht sofort offenkundiges Problem und wurde ausgetauscht.

Abalone – Seeohr – ist das Leitmotiv des nächsten Gangs. Das Fleisch des edlen Schneckentiers wurde in Seetang gedämpft, und die drei großen, vorportionierten Stücke präsentieren sich am Gaumen in einer Zartheit, die ich bei dieser Zutat noch nie erlebt habe. Einige Algen sowie Kletten-Wurzel, Letztere mit einem erdig-nussigen Aroma, ergänzen den kurzweiligen Genuss. Ebenfalls dazu gibt es in einem separaten Teller wilden Brokkoli sowie einen Teil des Muskels der Abalone, beides in einer intensiven Sauce aus Algen angerichtet. Das Gericht tanzt um Salzigkeit und Umami, alles duftet nach Ozean und schäumender Gischt. (8,5/10)

Dann folgt Kohlrabi. Nudelartige Streifen des Gemüses bedecken drei quaderförmige Stücke von mehrere Stunden gegrilltem Kohlrabi. Diese könnte man auf den ersten Blick glatt mit einer Jakobsmuschel verwechseln. Auch die Konsistenz ist ähnlich: zart, aber homogen und bissfest. Geschmacklich wird aber schnell klar, dass es hier um etwas anderes geht. Eine nussige Süße und stark an weiße Trüffeln erinnernde Aromen sind absolut fesselnd. Dass das Ganze noch in einer üppigen, am Feuer geräucherten Buttersauce angerichtet ist, trägt weiter dazu bei, diesen Gang als unvergessliche Produktoffenbarung abzuspeichern. Der kleine Gang ist phänomenal und aufwühlend. (10/10)

Der nächste Gang thematisiert, als einer von zwei Gängen, Wagyu von einem der exklusivsten Fleischbetriebe Kaliforniens, Knight’s Valley Wagyu aus dem Sonoma County. Sehr wenige der edlen Tiere werden überhaupt nur an eine Handvoll renommierter Küchenchefs zugeteilt. Hier regelt es nicht die Masse, sondern die Qualität und der entsprechende Preis.

Der Teller präsentiert zwei Stücke Rinderzunge in einem duftenden Potpourri verschiedener Gemüse, allem voran ein Sud aus und mit Spargelsalat (celtuce, nicht zu verwechseln mit einem Salat aus Spargel) und Pinienöl. Der ölige, warme Sud duftet nach verbranntem Nadelwald, eine junge Kartoffel greift diese Assoziation passend auf. Das Fleisch der Zunge hat eine typisch bissfeste Textur, präsentiert dabei jedoch auch die buttrig-üppigen Eigenschaften des edlen Rinds. Lagerfeueraromen paaren sich mit etwas Fett, knackigem Gemüse, Ausnahmequalitäten und wohltuend schlichter Anrichtweise. Großartig! (9/10)

Als kleines Intermezzo, aber durchaus als eigener Gang konzipiert, folgt ein über Lorbeer gegrillter Kräuterseitling. Der Pilz wird eigens am Tisch in einer warmhaltenden Holzschachtel präsentiert und auf einen kleinen Teller platziert. Dazu gibt es herzhaft und leicht säuerlich gewürzten Calhikari-Reis sowie einige fermentierte Gemüse. Während Kräuterseitlinge gewisse »Genussgrenzen« haben, bietet das Zusammenspiel von würzigem Reis, appetitanregender Säure und einem von irgendwoher noch aufflammenden Prickeln von Sanchopfeffer kurzweiligen Genuss. (7,5/10)

Der zweite Gang zum Thema Wagyu folgt dann mit zwei Stücken Flatiron-Steak. Die prachtvolle Marmorierung weist bereits darauf hin, dass jede Sauce auf dem Teller überflüssig wäre. Dennoch muss man es sich erst einmal leisten können, zwei Stücke Fleisch mit etwas Sauerampfer und drei Scheiben Kumquat auf einen Teller zu legen. Doch die Rechnung geht auf. Das Fleisch ist saftig, buttrig, üppig, Kräuter und Frucht bringen Frische und Bitterkeit, und ein leichtes »Rinder-Dashi« ergänzt den Gang um weitere Flüssigkeit, präzises Salz und wohltuende Wärme. Ein nur scheinbar karger Gang, in Wahrheit üppig, vollmundig und aufs Wesentliche reduziert. (8,5/10)

Draußen geht inzwischen die Sonne unter. Ich trete kurz hinaus auf die Terrasse, um die einmalige Atmosphäre aufzusaugen. Es ist unwirklich, hier zu stehen, vor der Unendlichkeit von zehntausend Kilometer Ozean.

Als ich mich wieder gefasst habe, stehen alle Zeichen auf Dessert.

Das erste ist ein Kombu-Eis mit Öl von Kaffeeresten und Lavendel. Obwohl die Verwendung von Seetang (Kombu) forciert klingt, bringt sie hier nur eine leichte Salinität ins Spiel, sodass im Wesentlichen ein gefälliges Geschmacksbild entsteht, das Salzkaramell ähnelt. Knusprige Elemente, die ich den aufgeführten Zutaten nicht ganz zuordnen kann, sorgen für etwas texturelle Abwechslung und der sorgsam dosierte Lavendel für eine ganze Reihe von Assoziationen rund um den Sommer. Schlicht – und mehr als hervorragend. (8,5/10)

Die letzten Kreationen des Abends erreichen den Tisch. Eine davon ist ein Kräuter- und Blütensträußchen, das in einem Dip von »gegrilltem Honig« liegt. Man lutscht da etwas dran herum und entdeckt würzige, ätherische und florale Noten, zwischen Minze, Harz und Honig. Dazu passt eine heiße, frisch angegossene Infusion aus Fichtennadeln. Zusätzlich findet man auf einem Holztablett eine Kreation mit sehr aromatischem Pfirsich und einer Art Milchreis, eine Praline mit gepufftem Buchweizen und Schafsmilch, die geschmacklich an Popcorn erinnert, sowie ein Fruchtgelee mit Beifuß, das mit an Campher und Menthol erinnernde Aromen geschmacklich die Eindrücke des Honigsträußchens wieder aufnimmt. Dieser gesamte Menüabschluss erinnert mich an die Nadelbäume dieser Küstenlandschaft und nach den Sonnenstrahlen des ausklingenden Sommers. (8,9/10)

Küchenchef Matthew Kammerer gelingt es auf zutiefst beeindruckende Weise, den Geschmack einer ganz spezifischen Landschaft einzufangen. Es ist eine von der Salinität des Ozeans geprägte Landschaft, artenreich, fruchtbar und ständig im Fluss. Die Küche des Harbor House Inn fängt den Geschmack dieser Region ein, wie nur wenige Küchen so etwas vermögen. Achthundertfünfzig Meilen weiter nördlich, auf Lummi Island, gelingt Blaine Wetzel im Willows Inn Ähnliches. Auch ans ehemalige Fäviken muss ich denken. Eine Küche wie diese ist mehr als bloß »regional«, sie ist eigenständig, relevant und nicht kopierbar.

Und mit dem Menü klingt auch mein Aufenthalt hier aus. Am Morgen schon geht es zurück, über kurvige Straßen, über mit Mammutbäumen gesäumte Wege, über mehrspurige Highways. Ich nähere mich dem Napa Valley, und das Thermometer erreicht schon wieder hundert Grad Fahrenheit. Und so sehr ich mich auch bemühe, im Rückspiegel ist vom Harbor House Inn längst nichts mehr zu sehen. Das verlangt mir eine kleine Träne ab. Sie ist salzig, vom Ozean in Mendocino.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Harbor House Inn (→ Website)
Chef de Cuisine: Matthew Kammerer
Ort: Elk, USA
Datum dieses Besuchs: 21.07.2022
Guide Michelin (California 2021): **
Meine Bewertung dieses Essens: 8,9 (Was bedeutet das?)
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