Californios – der Reis ist Mais

Die Speisekarte macht was her. Die Außenseite ist mit einem schweren Foto beklebt, das den Ausschnitt einer sommerlich gekleideten Frau zeigt, die eine Kakaofrucht in der Hand hält. Das sinnliche Foto spielt mit Spannung durch Weggelassenes, dem Reiz von Exotischem, einer ästhetischen Bildsprache und haptischen Kontrasten. Es könnten erste Hinweise auf die Küche sein.

Schlägt man die Karte auf, bleibt es spannend. Man erfährt zunächst, dass die mexikanische Küche, um die es hier im Californios geht, seit 2010 zum UNESCO-Kulturerbe gehört, und dass man sich hier dem Erhalt, der Fortsetzung und der Erhöhung dieses Kulturguts gewidmet hat. Vermutlich hat es die mexikanische Küche, deren Fundamente eher auf der Straße zu finden sind als am gedeckten Tisch mit Kandelaber, nicht leicht, auch als Hochküche verstanden zu werden – wenngleich Restaurants von Weltruf längst auch in Lateinamerika zu finden sind.

Neben grafischem Aufmacher und Einleitung folgt eine ausführliche Ausführung des Menüs, das in drei Akte auf jeweils einer Seite unterteilt ist. Eine Auflistung der Zulieferer fehlt ebenfalls nicht. Das Angenehme an dieser umfangreichen Präsentation ist, dass man alles bei Bedarf nachschlagen kann. Nicht optional ist dagegen das vorbezahlte Ticket, das mit Service Charge, Taxes und Order Fee mit 362,20 $ pro Person (ca. 362 €) zu Buche schlägt. Meine Reservierung ist für den überdachten Außenbereich.

Bis auf ordentlich dimensionierte Heizstrahler und eine angenehme Brise ist kaum auszumachen, dass man im Freien sitzt. Einzig der Service ist hier etwas schwerfällig, sehr nett zwar, aber selten zur Stelle, wenn man es sich gerade wünscht – oder zu lange am Tisch, wenn man eigentlich mal für sich sein möchte. Ein von mir recht zügig ausgewählter 2017er Kongsgaard Chardonnay aus dem Napa Valley (210 $) wird auch erst nach den ersten Snacks an den Tisch gelangen. Alles kein Beinbruch, aber ungewöhnlich in Kalifornien, wo guter Service in der Spitzengastronomie eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist.

Ein alkoholfreies Getränk, Agua Fresca, überbrückt das Warten auf den Wein auf erfrischende Weise mit einer salzig-fruchtigen Mischung aus Weißer Nektarine, Guan Yin-Tee und Hibiskus.

Das Getränk leitet gekonnt zur ersten Speise über, Chilapita. Der Begriff bezeichnet eine Art Tartelette-Spezialität aus Guerrero in Südwestmexiko, die in diesem Fall aus lila Mais hergestellt ist und mit sehr fruchtigen Aromen erstaunt. Eine leichte Mousse von geräuchertem Stör mit einem Topping von amerikanischem Kaviar (Tsar Nicoulai Golden Reserve) betont alles mit Salz und maritimen Aromen, doch ein fruchtiger Geschmackseindruck bleibt im Vordergrund der fein gearbeiteten Kreation. (7,5/10)

Auch dem zweiten Snack sieht man sein akkurates Handwerk an. Ein knuspriger Taco mit frischem, authentischem Maisgeschmack ist mit roher Gelbschwanzmakrele, Pfirsich und Forellenrogen gefüllt, eine Habanero-Vinaigrette unterstreicht dazu mit ihren Fruchtaromen den Pfirsich und mit ihrer Säure die frischen Zutaten aus dem Meer. Das ist äußerst gelungen, und es kann einem bereits an dieser Stelle auffallen, dass die verschiedenen Mais-Teige, Masa genannt, für Küchenchef Val Cantu so heilig zu sein scheinen wie Reis für japanische Sushi-Meister. (8/10)

Nun kommt auch endlich jemand mit der Flasche Weißwein an den Tisch. Skurrilerweise ist die Flasche nicht temperiert, ein Eiskühler muss her. Das ganze Service-Thema ist etwas hakelig.

Mit einer Tostada offenbart der Küchenchef sein Können bezüglich eines weiteren lateinamerikanischen Teigklassikers, der in diesem Fall aus der Maissorte Hopi White zubereitet wurde. Das luftig-knusprige Gebäck zieren Stücke von in Puya-Chili-Butter pochiertem Hummer aus Maine mit Early Girl-Tomaten. Der erneut unterschiedliche Teiggeschmack fasziniert hierbei genauso wie der buttrige, präzise gegarter Hummer in Kombination mit dem Umami der saftigen Tomaten. (8/10)

Schon jetzt hat sich für mich eine begeisternd neue Geschmackswelt aufgetan, der man auf diesem Niveau nicht so oft begegnen kann. Dass die Tür zur vielfältigen Küche Mittel- und Südamerikas hier nur einen winzigen Spalt geöffnet wurde, versteht sich von selbst. Beizeiten werden mich meine Reisen auch dorthin führen. Heute Abend tut es aber auch dieser Innenhof in San Francisco.

Es geht weiter. Arepa, ein gebackener Fladen aus venezolanischem Maismehl, ist herzhaft mit geschmolzenem Achadinha-Käse und Serrano-Schinken gefüllt. Der Mais fügt dabei auch hier wieder eine fruchtig-süße Geschmacksebene hinzu, die willkommen ungewohnt ist. Eine Pluot-Marmelade zum Stippen nimmt das gekonnt auf. Der Snack ist sehr gut für das, was er sein will, dennoch eine Nuance zu süß für mich an dieser Stelle des Menüs. (7/10)

Der laut Speisekarte erste Teil des Menüs findet sein Ende in Sope, einer mexikanischen Spezialität auf Basis eines frittierten Maiskuchens mit herzhafter Garnierung. Letztere kommt hier in Form von kurz angegrilltem Seeigel aus Hokkaido, der mit einer Mixtur aus weißer Sojasauce, piloncillo (Melasse aus Zuckerrohr) und Japones-Chili glasiert wurde und, darunter, einer Nocke Kaviar. Der Snack, den man im Ganzen verspeist, ist durch die Intensität von Seeigel und Kaviar, die mundfüllende Portion und die kräftigen Röstaromen extrem – aber extrem gut, selbst, wenn man das nicht sofort nachbestellen möchte. Doch die Qualität der Zutaten und die abermals charaktervolle Maiszubereitung sind einzigartig. (8/10)

Wenngleich ich nicht der größte Fan von »Gaumenerfrischern« bin, ergibt ein samtiges Gurkensorbet auf knackig-frischer Gurke in einem kühlen Wassermelone-Minz-Tee an dieser Stelle Sinn. Nach dem mais- und teigbetonten ersten Kapitel erfrischt die Kreation, beruhigt den Gaumen und erfreut mit lupenreinen Gurkenaromen. (8/10)

Der nächste Gang ist eine farbenfrohe, puristische Trilogie. Einer der Teller präsentiert verschiedene Sorten Melone in jeweils einem mundgerechten Stück. Alle stammen von einer Farm aus Stockton in Kalifornien und sind jeweils mit einer unterschiedlichen Salzmischung bestreut. So gibt es gelbe Wassermelone mit Serrano-Salz, Piel de Sapo-Melone mit Chili-Honig-Salz sowie Cantaloupe-Melone mit einem Salz aus Chicatana-Ameisen und Chilhuacle Negro-Chili. Sie sind alle saftig, süß, und so surreal fruchtig-aromatisch, dass geradezu eine Nähe zu industriellem Melonenaroma gegeben ist, das man sonst nur aus Gummidrops usw. kennt. Die frische Saftigkeit und das kontrastierende Salz tragen dazu bei, die Natürlichkeit dieser Über-Früchte zu unterstreichen. Es sind die besten Melonen, die ich je probiert habe, besser noch als die berühmten Musk-Melonen aus Japan.

Wem hierbei ein Vergleich zu Japan noch nicht in den Sinn kommt, bekommt spätestens beim Thunfisch eine weitere Gelegenheit dazu. Drei fingerdicke Tranchen eines mexikanischen Exemplars erlösen den Gaumen von pandemiebedingtem langem Darben nach derartigen Qualitäten. Zwischen den Thunfischtranchen liegt jeweils eine Scheibe hauchdünn geschnittene Tomatillo, die Frische beisteuert. Fisch und Frucht sind wiederum in einem mit Erdbeere aromatisierten Aguachile, einer Art Ceviche, angerichtet – eher appetitlich säuerlich als betont fruchtig. Eine Tomatenessenz, abwechslungsreich verfeinert mit kleinen Stücken Nopal (eine Kaktusart), Gurkenmelone und Eiskraut, versorgt den Gaumen mit elegantem Umami und leichten Röstaromen. Der herausragend schlichte Gang verneigt sich unweigerlich, aber nicht demütig, in Richtung Japan, referenziert das Leitmotiv Mexiko und huldigt die Spitzenprodukte Kaliforniens. Einzigartig! (9/10)

Mit Banane folgt eine Zutat, der man in den meisten Spitzenküchen dieser Welt selten abseits von Desserts begegnet (und die auch dort zumeist eher »hemdsärmelige« Ergebnisse hervorbringt). Bei diesem Signature-Gericht des Küchenchefs findet man gegrillte Banane in gesalzenem Dulce de Leche, getoppt mit einer großen Nocke Kaviar. Die Kombination klingt wie eine Mutprobe, die man besser sein lässt, doch das Gericht ist erstaunlich gut. Zum einen funktionieren die Röstaromen der Banane hervorragend mit dem Kaviar sowie dem Salz des Milchkaramells, weiter passt die Süße des Letzteren gut zur Banane. Zwei Geschmackswelten, die man sonst seltener am Gaumen vereint, wirken hier spannungsvoll zusammen. Das Gericht passt perfekt in diese Küche und ist eine logische Fortsetzung des Themas »(süßer) Mais mit Herzhaftem«. (Wie deplatziert diese Kombination wirkt, wenn man sie aus ihrem Kontext löst, erlebte ich gerade erst im Nisei, wo Küchenchef David Yoshimura, der lange hier im Californios tätig war und diese Inspiration offenbar mitnahm, Kaviar mit Bananen-Blinis als kostenpflichtiges, aber entbehrliches Extra serviert.) (8/10)

Unter dem Stichwort Escabeches werden als nächstes fermentierte Karotten, in Limone marinierte Zwiebeln, frische Limone und eine Salsa Verde aufgetischt – allesamt Begleiter zu einer Tetela, eine dreieckige Maistaschenspezialität, die hier aus der Maissorte Hickory King zubereitet wurde. Kürbisblüte, Koriander und Epazote (Mexikanischer Drüsengänsefuß) wurden in die Teigtasche eingearbeitet, während die Füllung aus Maispudding, Cotija-Käse, weißen Royal Corona-Bohnen und Eichelkürbis-Pipián besteht. Die Maistasche schmeck sehr gut, und mit den säuerlichen Gemüsezubereitungen ergibt das kurzweiligen Verkostungsspaß. (7/10)

Das Präsentieren immer weiterer Maisteigkreationen reißt – berechtigterweise – nicht ab. Beim nächsten Gang handelt sich um eine Tortilla mit gegrilltem Alfonsino (Nördlicher Schleimkopf), Mango aus Manila und verschiedenen Chili-Saucen. Man rollt den Maisfladen einfach zusammen und genießt den saftigen, gehaltvollen Fisch, belebende Schärfe und reife, aromatische Mango. Das ist zum Augenschließen gut. (8/10)

Die Genussreise geht weiter mit Quesabirria, eine dünne, weiche Teigtasche aus Michoacan Azul-Mais und Frühlingszwiebeln, gefüllt mit Morcheln, Oaxaca-Käse und Australischem Wintertrüffel – eine himmlisch genussreiche Kombination. Eine intensive, etwas pikante Rinderconsommé rundet diesen weiteren exzellenten Gang ab und leitet schlüssig zum nächsten Gang über. (8/10)

Es gibt Asado, also Fleisch vom Grill, und zwar in Form von zwei üppigen Tranchen Sanuki Olive Wagyu von einer besonders seltenen Wagyu-Züchtung in Japan, bei der die Rinder eine spezielle Olivendiät genießen. Das Fleisch der Marmorierungsstufe A4 kommt mit Rinderjus und Salsa Macha, einer pikanten Mixtur aus verschiedenen Chilischoten, Nüssen, Knoblauch und Olivenöl. Die Saucen – salzig, herzhaft und pikant – passen gut zum stark marmorierten, üppigen Fleisch. Separat dazu gibt es kleine Kartoffeln des renommierten kalifornischen Zulieferers Zuckerman Farms. Sie wurden zusammen mit Chintextle, einer Paste aus geräucherten Chilis, geröstet und dürften in dieser Zubereitung und Qualität zu den besten Kartoffeln gehören, die ich je probiert habe. Um das üppige Gericht etwas aufzulockern, gibt es noch hauchdünne Kürbisstreifen in einer Vinaigrette mit Jalapeño und Brunnenkresse. Der Gang ist – gerade an dieser Stelle des Menüs – ein bisschen zu üppig, doch der Genuss ist zu groß, um diesen Gedanken weiterzuführen. (8,9/10)

Der dritte und letzte Akt des Menüs beginnt mit einem erfrischenden Digestiv mit Wermut, Ingwer und Apfel zu einem angenehm süßen Maiseis mit blumig-fruchtigen Blaubeeren und leicht bitterer Sauerampfer-Creme. Ein Fingersnack mit einem mit Ziegenkäse und Mexikanischem Blattpfeffer gefüllten Brombeer-Segel in einem Brombeer-Coulis komplettieren diese erste, »beerige« und hervorragende Dessertrunde. (7,9/10)

Die letzten Genüsse aus dem Californios sind eine Pflaumen-Crème-Chiboust mit Schokoladensorbet, halbgetrockneten Pflaumen und einer Vanille-Olivenöl-Emulsion, eine Honigpraline mit weißer Schokolade und Bienenpollen, eine Schokoladen- und eine Erdbeerpraline sowie um ein Piña-Colada-Eis gesponnene Zuckerwatte. Alles eine Wonne. (8,9/10)

Es ist eine ziemliche Sensation, was Küchenchef Val Cantu aus einer Küche macht, die nicht die erste ist, die einem zum Stichwort Hochküche einfällt. Gerade der Maisteig (Masa), der rote Faden der mexikanischen Küche, stellt für feinsinnige Kompositionen eine Herausforderung dar, sowohl geschmacklich als auch in Bezug auf seine »Schwere«. Doch für Cantu ist der Masa die Zutat, die für japanische Sushi-Meister das Shari ist, der Reis. In Kombination mit einem äußerst präzisen Handwerk und qualitativ phänomenalen Zutaten ergibt die Arbeit von Cantu eine der derzeit wohl eigenständigsten und charaktervollsten Spitzenküchen Nordamerikas.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Californios (→ Website)
Chef de Cuisine: Val Cantu
Ort: San Francisco, USA
Datum dieses Besuchs: 20.07.2022
Guide Michelin (California 2021): **
Meine Bewertung dieses Essens: 8 (Was bedeutet das?)
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