Angler – zurück ins Wasser

Es ist fast wie damals, und doch ist alles anders. Weder bin ich wieder im Saison, noch erwartet mich gleich ein mehrgängiges Prix-fixe-Menü. Und das Restaurant, in dem ich bin, hat auch keine drei Sterne. Ich bin nicht mal in einem Restaurant, sondern sitze in dem etwas mehr als provisorisch hergerichteten Außenverschlag des Angler in San Francisco. (Das G wird mitgesprochen, wie bei Glück.) Der Ausblick auf die Bucht vor San Francisco und die Bay Bridge ist atemberaubend.

Wie vor sieben Jahren im Saison heißt der Verantwortliche für dieses Gastronomiejuwel am Embarcadero ebenfalls Joshua Skenes. Wie damals spielt eine 80er-Jahre-Pop-Playlist. Und wie damals spricht jedes Detail des Angler die Sprache eines Verständnisses von Gastfreundschaft, Bewirtung, Gastronomie und Kulinarik – kurz: hospitality –, die man in dieser Ausgestaltung, bis auf wenige Ausnahmen, nur in den USA erlebt.

Im Gegensatz zu Skenes’ Flaggschiff Saison, das seit dem Fortgang von Skenes aus der Küche nie zu drei Sternen zurückgefunden hat, setzt der erfolgreiche Gastronom und Koch mit dem Angler auf ein unkompliziertes Konzept. »Unkompliziert« beinhaltet in diesem Zusammenhang vor allem mühelos und auch kurzfristig verfügbare Reservierungen und eine auf Fisch und Meeresfrüchte fokussierte, aber nicht beschränkte, Küche à la carte. (Es gibt inzwischen auch eine Dependance in Los Angeles.) Der Anspruch an Qualität wird dabei an keiner Stelle über Bord geworfen, im Gegenteil, die Zutaten der Speisekarte sind atemberaubend. Vorkenntnisse in Bezug auf unterschiedlichste Meeresbewohner und Zubereitungsarten schaden nicht, um sich durch die Karte zu navigieren. Eine Voraussetzung ist das aber mitnichten, spätestens die Position »Let us cook for you« nimmt einem bei Bedarf jegliche Entscheidungsarbeit ab.

Die Weinkarte ist hinsichtlich ihres Umfangs und der gebotenen Qualitäten kaum zu fassen, hier profitiert das Angler vom gemeinsamen Weineinkauf mit dem Saison. Im Dialog mit dem sympathischen Sommelier starte ich den Abend mit einem 2015er Liquid Farm Chardonnay aus den Santa Rita Hills (160 $, ca. 160 €) – eine sensationelle Entdeckung. Dass es dabei nicht bleiben soll, kündige ich auch schon mal an und behalte die Weinkarte gleich am Tisch. Ohne bisher auch nur einen Happen gegessen zu haben, ist jetzt schon klar, dass das hier alles nur grandios ausgehen kann. Oder, wie es Phil Collins gerade formuliert, »I can feel it comin’ in the air tonight«.

Kulinarisch starte ich den Abend mit einigen qualitativ herausragenden Süßwasser-Austern aus Kalifornien (5 $ pro Stück). Ich genieße (rohe) Austern am liebsten pur, aber von zwei dazu servierten Dips begeistert mich besonders eine transparente Sauce von »geröstetem Essig«, die geschmacklich etwas an Ketchup erinnert. Die Austern an der Westküste Nordamerikas zählen mit zu den besten, und diese Exemplare stellen keine Ausnahme dar. (7,5/10)

Die wenigen Austern sind schnell verputzt, und ich bin kurz davor, nachzubestellen. Unter der Überschrift »Bivalves« (Muscheln) gibt es fünf verschiedene Sorten Weichtiere, von »Pinkerton’s Loot«-Austern aus British Columbia bis zu Venusmuscheln aus Florida. Das sukzessive Eindecken des Tischs mit weiteren Köstlichkeiten, die sich in der Karte vielversprechend lesen, lenkt mich aber erst einmal vom Nachbestellen ab.

Ein Tartar vom Thunfisch mit Tomatengelee und Shiso (23 $) sorgt mit einer angenehmen Kühle für glasklaren und präzisen Genuss. Der kräftige Umamigeschmack des Tomatengelees wird elegant vom floralen Shiso umspielt, dazu schmeicheln der Schmelz des hervorragenden Thunfischs und dessen verhaltene maritime Aromen. Ein nach Eisbergsalat aussehender Reiscracker mit Algenstaub gehört auch noch dazu, eine leichte Knabberei mit japanischem Einschlag. Begeisternd gut. (8,5/10)

Nahezu ein Spiegelbild davon ist ein Tartar von der Antilope (22 $). (Die Tiere stammen von einer Farm aus Kalifornien und unterliegen strengen gesundheitlichen Kontrollen, wie ich erfahre.) Dazu gibt es mit Yuzukoshō (eine Gewürzmischung aus Yuzu, Chili und Salz) gewürztes Eigelb. Das Tartar schmeckt würzig und rauchig, und ein scheinbar profaner Kopfsalat – nun tatsächlich einer – schmeichelt Gaumen und Gemüt mit einer fast unwirklich leichten »Knackigkeit« und erneut blumig-minzigen Shiso-Aromen. Produktqualitäten, Aromen und Umsetzung sind hier auf einem erstaunlichen Niveau. (8/10)

Ich bin inzwischen im Verköstigen versunken. Hier ein Löffel von Tartar Nummer eins, da eine Gabel von Tartar Nummer zwei, zwischendurch ein Stück von der fluffigen Brioche mit etwas Butter, was beides inzwischen auch auf dem Tisch steht. Der Chardonnay ist zwar noch nicht leer, aber es muss noch etwas Anderes ins Glas, zusätzlich. Derart kurzweiliger Genuss ist sehr verkaufsfördernd – eine Tatsache, die man längst nicht in allen Restaurants verstanden hat.

Nach einigem Stöbern finde ich mit einem 2017er Echézeaux von der Domaine Mongeard-Mugneret für 360 $ zwar keinen günstigen Wein, aber doch ein relatives Schnäppchen, auf dessen Fund spaßeshalber sogar der Sommelier neidisch ist. (Andere Weine dieser Appellation kosten hier im Mittel um die Tausend Dollar, und die Domaine Mongeard-Mugneret ist durchaus ein guter Erzeuger.) Der Wein ist eine Wucht und passt zu Belinda Carlisles »Heaven Is A Place On Earth«.

Und was wäre ein Seafood-Restaurant ohne einen im Ganzen gegrillten Fisch? Die Dorade (52 $) wurde dazu vor dem Grillen aufgeklappt und von Gräten befreit, was ein unkompliziertes Genießen des Fischs ermöglicht. Dieser ist wunderbar saftig und präsentiert sich mit köstlichen Grillaromen. Er ist lediglich mit Salz und Pfeffer gewürzt und benötigt auch nicht mehr. Etwas Zitrone ist noch mit dabei, für den gelegentlichen Bedarf. Puristisch gut. (7/10)

Gleichzeitig stehen noch eine über Holzkohle gegrillte Jakobsmuschel (25 $) – fleischig, buttrig und von phänomenaler Qualität (8/10) – und ein langsam gegrillter Maitake-Pilz (Laubporling, 18 $) in mit Chili aufgepeppter Wermut-Butter auf dem Tisch, eine nach Röstaromen, Erde und Tomate schmeckende Produktoffenbarung (8/10). Billy Ocean singt, der Sommelier schenkt Burgunder nach, die Bay Bridge leuchtet in einer Farbe, die Apple für ein neues iPhone vielleicht Embarcadero Blue nennen würde.

Ich schließe das Essen noch mit einem Soft Serve Sundae (16 $) ab. Der grotesk große Eisbecher mit Salzkaramellsauce (zum Nachnehmen) und weichem Vanilleeis, erfüllt alle Kriterien eines Desserts, das man nie wieder vergisst. Kein noch so kreatives Dessert kann mit dem Genuss dieser Eisportion mithalten. (9/10)

Irgendwann, wenn sich der Gaumen wieder akklimatisiert hat, passt auch wieder der Échézeaux, mit dem ich den Abend ausklingen lasse. Trotz eines Heizstrahlers wird es auch langsam frisch hier draußen. Doch meine Laune ist zu gut, um bereits aufzubrechen. Das Angler macht einfach nur glücklich.

Es gibt für mich auch nichts Gelungeneres als eine A-la-carte-Auswahl auf einem derart hohen Niveau. Immer wieder nachzubestellen, das Tempo selbst zu gestalten und eine bewusste, produktorientierte Auswahl tätigen zu können – all das bereitet mir in einem Restaurant nach wie vor die größte Freude. Das Angler, dessen einsamer Michelin-Stern hinsichtlich der gebotenen Qualitäten eigentlich zu wenig ist, hatte mich heute fest an der Angel. Als ich mich irgendwann auf den Weg mache, fühle ich mich, wie ins W­­­asser zurückgeworfen. Zurück aus einer Welt, die man sonst selten zu Gesicht bekommt.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Angler (→ Website)
Chef de Cuisine: Adam Stacy
Ort: San Francisco, USA
Datum dieses Besuchs: 19.07.2022
Guide Michelin (California 2021): *
Meine Bewertung dieses Essens: 8 (Was bedeutet das?)
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