Le 1947 – Savoie faire

Ich fand es immer etwas zynisch, dass der Guide Michelin ein Restaurant mit drei Sternen auszeichnet, das nur vier Monate im Jahr geöffnet hat. Ein Popup-Restaurant, sozusagen. Die Rede ist vom Le 1947 in Courchevel, dem französischen Wintersportort in den Savoyer Alpen, in dem die Gondeln der Skilifte ein Gucci-Logo tragen und die Zimmerpreise der Hotels an den Höhenmetern orientiert sind. Mit meiner ausgeprägten kulinarischen Neugier und einer authentischen Begeisterungsfähigkeit für gutes Essen dürfte ich ein Exot unter dem Publikum hier sein.

Am besten, man beißt an meiner Stelle einfach in den »sauren Apfel« und nistet sich komplett im Cheval Blanc ein, der Luxushotelmarke des LVMH-Konzerns, in der auch das Le 1947 untergebracht ist. Sauer ist der Apfel allerdings gar nicht, das Hotel lullt einen mit seinem zeitgemäßen alpinen Schick und herausragenden Service sofort ein. (Selbiges gilt auch für die Cheval-Blanc-Hotels in Paris und St. Tropez, die ebenfalls Drei-Sterne-Restaurants beherbergen.)

Ich habe eine straffe Agenda. Als ich an diesem Freitag gegen halb sechs Abends ankomme – nach zwei kurzen Flügen und einer zweieinhalbstündigen Autofahrt, diesmal ohne geplatzte Reifen –, tickt die Uhr bereits. Am nächsten Morgen schon reise ich ab. Mein Aufenthalt ist explizit dem Essen in Yannick Allénos zweitem Drei-Sterne-Restaurant gewidmet. Kurz vor acht Uhr sitze ich am Tisch, noch etwas zu früh, aber herzlich empfangen vom besonders gut gelaunten Personal.

Der Speisesaal ist futuristisch gestaltet und beherbergt lediglich fünf Tische. Das passt zur knappen Öffnungszeit des Restaurants. Ein wabenförmiges Designelement fungiert als Servicebereich. Yannick Alléno selbst soll heute im Haus sein – es ist immerhin der erste Service der Saison. Ich bekomme ihn allerdings nicht zu Gesicht.

Der Name des Restaurants leitet sich vom legendären Jahrgang des Premier-Cru-Bordeaux Château Cheval Blanc ab, der ebenfalls dem Luxusgüterkonzern gehört. (Auf den Wein ist man so stolz, dass ein weiteres Hotelrestaurant der Marke, auf den Malediven, auch Le 1947 heißt.)

Der namensgebende Wein ist hier selbstverständlich auch erhältlich, zu siebenundvierzigtausend Euro die Flasche, man beachte die Zahlenspielerei. Drei Nächte im teuersten Zimmer kosten hier ähnlich viel. Der Wein ist Bestandteil der separaten Weinkarte mit Bouteillen des LVMH-Konzerns, von Dom Pérignon bis Château d’Yquem, der ich mich nicht ausführlich widme. Nach Etiketten-Weinen ist mir heute nicht, wenngleich ich einen 47er Cheval Blanc nicht von der Tischkante stoßen würde.

Ein charmantes Detail, das in den meisten Restaurants übersehen wird, ist die umsichtige Nachfrage des Service, ob mit der Servieren der Amuse-Bouches gewartet werden soll, bis man in der Weinkarte fertig gestöbert hat. Wenig ist zu Beginn eines Menüs lästiger, als ständig die Karte zusammenklappen zu müssen, während schon die ersten Häppchen serviert werden. (Abgesehen davon ist es eine unhygienische Angelegenheit, zwischen einer oft durch viele Hände gewanderten Weinkarte, schlimmer noch: einem Tablet-Computer, und den Amuse-Bouches wechseln zu müssen, die man oft mit den Fingern isst.) Meine Weinauswahl fällt schließlich auf einen 2014er Bonnes-Mares von der Domaine de la Vougeraie (620 €), es ist der Abend für Größeres.

Kulinarisch wird einem die Wahl nicht leicht gemacht. Es gibt ein fünfgängiges Menü für 415 € sowie eine A-la-Carte-Auswahl mit übersichtlichen neun Gerichten zuzüglich Käse und Desserts. Die Gerichte der Karte sagen mir spontan etwas mehr zu, und im angeregten Austausch mit dem Service steht dann auch zeitnah meine Auswahl. Die Zutaten sind im weitesten Sinn regional, es geht offenkundig um die kulinarisch vielfältige Region der Savoie.

Nachdem nun alles geklärt ist, beginnt die Küche, angeführt von Gérard Barbin, mich – nicht allmählich, sondern auf einen Schlag – in ihren Bann zu ziehen. Das erste Häppchen ist eine Blüte vom Alpen-Edelweiß, frittiert in einer filigranen Topinambur-Knusperhülle. Die rare Blume ist mit einem Stück Räucheraal und Foie Gras gefüllt, was in Summe einen sowohl handwerklich als auch aromatisch beeindruckend filigranen und doch »dichten« Snack mit Aromen um Rauch und Lagerfeuer ergibt. Ein schwindelerregender Auftakt in fast zweitausend Metern Höhe (9/10).

Es folgt eine Tartelette mit Lièvre à la Royale, dem berühmten Schmorklassiker der französischen Küche. Der geschmorte Hase ist hier mit etwas Kakaopulver betont, was die typische, leicht »metallische« Blutnote des Gerichts unterstreicht. Etwas Pampelmuse liefert dazu fruchtige Frische. Dazu trinkt man aus einem separaten Gefäß eine Consommé aus einer Quitten-Kaltextraktion – Letzteres Verfahren ist eine Spezialität von Alléno – und schwarzem Pfeffer, der so wunderbar blumig schmeckt, dass er an einen duftenden Rosenstrauß erinnert. Die handwerklich aufwändige Petitesse ist eine Sensation – thematisch mutig, aromatisch verzaubernd – und leitet eine Küche ein, die alles andere als ein banaler crowd pleaser ist. Das hat zwar auch niemand behauptet, aber in einem Umfeld, in dem viele Gäste eher mit Budget als mit Geschmack ausgestattet sind, darf man skeptisch sein. (9/10)

Der erste Gang trägt die Überschrift »balade transalpine« (»transalpiner Spaziergang«, 69 €) und ist eine Kreation aus über vierzig überwiegend regionalen Zutaten, die die vier Jahreszeiten der alpinen Flora repräsentiert. Im Umfeld eines Gelees aus einer Steinpilz-Vin-Jaune-Extraktion trifft man bei dem kulinarischen Spaziergang zum Beispiel auf konservierte Steinpilze, confierte Meyer-Zitrone, Schlehbeere, Brunnenkresse, Haselnuss, roten Apfel, Rübchen, Liebstöckel, Enzian, lardo di Colonnata, dehydriertes Sellerie-Risotto, sogar über ein geradezu nonchalant platziertes, walnussgroßes Stück Périgord-Trüffel stolpert man so zufällig wie über einen Pilz im Wald. Wie es Gerichte mit so vielen Zutaten an sich haben, bietet jeder Bissen ein neues und einzigartiges Geschmackserlebnis. Dabei stellt das erfrischende, leicht umami schmeckende Gelee in der Mitte eine Art Fixpunkt dar, der aromatische Orientierung bietet. Dutzende Kräuter blitzen immer wieder mal aromatisch mit überraschenden Aromen auf, wie Lichtstrahlen, die ihren Weg durch dichte Baumkronen finden. Es ist ein grandioses, bildgewaltiges Gericht mit wundervollen Zutaten und starken Assoziationen. (10/10)

Die Küche schiebt überraschend noch einen Gang aus dem Menü ein. Es handelt sich um eine Consommé double nach einem Rezept von Alain Chapel, die mit Rindfleisch geklärt und hier mit gepresstem (!) Osietra-Kaviar veredelt wurde. Letzteres erklärt den maritimen Duft nach Algen, der über dem Töpfchen schwebt und der aromatisch kräftigen Essenz noch mehr Tiefe verleiht. Es ist vielleicht die beste heiße Flüssigkeit, die ich je zu mir genommen habe. Doch der Genuss ist damit nicht vorbei. Die magische Essenz ist von heißen, knusprigen und mit Kaviar gefüllten Blinis begleitet. Diese haben mit dem labbrigen, kalten Klassiker nichts gemein. Das passt geschmacklich alles perfekt zusammen, und noch nie habe ich Kaviar so konsequent als »Würzmittel« erlebt. Dass diese Küche hier eher subtil punktet und nicht mit Prunk, ist ein Motto, das sich fortsetzt. Die achtstündige Anreisestrapaze verflüchtigt sich in der wohltuenden Hitze, der Reinheit der Brühe, dem Schmelz des Gebäcks und den jodigen Akzenten. (10/10)

Der nächste Gang ist in der Speisekarte rätselhaft mit »Suppe des Hüttenbauers« (»soupe du cultivateur de mazot«) übertitelt, eine Referenz an die einfache, bäuerliche Küche der Region. Dass die Speisekarte als einzige Zutat Jakobsmuscheln verrät, verstärkt die Überraschung, dass sich in dem Gericht kleine Würfel von geräucherter Andouillette befinden. Die vor allem in Lyon beheimatete Wurstspezialität ist nichts für schwache Nerven und besteht aus aromatisch penetranten Schweineinnereien wie Darm und Magen, was nicht zu »überriechen«, wohl aber zunächst zu übersehen ist. Erst unter den Stücken perfekt gegarter und in einem Lauchsud angerichteter Jakobsmuscheln findet man die winzigen, aber wirkungsvollen Wurststückchen. Der durchaus befremdliche Geruch wird, neben der behutsamen Dosierung, auch durch einen Wildkräutersalat mit Schafgarbe, Borretsch und Strauch-Melde aufgelockert. Das ist zweifellos ein großartiges Gericht, das eine bodenständige regionale Spezialität eindrucksvoll in andere Sphären hebt. Das krasse Aroma kostet dennoch einiges an Überwindung. Aber das Weltklasseniveau dieser Kreation ist unstrittig. (8,9/10)

Aus dem Staunen über diese in jeder Hinsicht anspruchsvolle Küche komme ich kaum heraus. Der charmante Service und der großartige Wein haben das alpin-kühle Ambiente längst in einen Kokon des Genusses und der Herzlichkeit verwandelt.

Für den Hauptgang fiel meine Wahl auf Milchlamm aus dem Sisteron (165 €). Das Karree wurde hierzu mit klassischen Aromaten in der Pfanne rosa gebraten und findet sich in Form von drei dicken Tranchen mit appetitlicher, schmelzender Fettschicht auf dem Teller wieder. So weit, so klassisch, gibt es dazu ein Viertel eines Salatherzes, das mit Zubereitungen aus Basilikum, Meyer-Zitrone und Nori »gespickt« wurde. Damit betont man nicht nur die knackige Frische des (bei aller Knackigkeit dennoch lauwarmen) Salats, sondern leitet aromatisch zur dritten Hauptzutat über: Cadoret-Auster aus Belon. Dieser im Kontext von Lamm überraschend maritime Mitspieler wird separat am Tisch auf den Teller platziert und ist zunächst gar nicht als Auster erkennbar, da diese mit einer Villeroy-Sauce auf der Basis von Geflügelfond, Roux, Eiern und Extraktionen von Trüffel und Schinken gratiniert wurde. Die Sauce zu allem ist eine Suspension aus klassischem, an den Lippen klebendem Lammjus, Kräuteröl und einem Elixier auf der Basis von Pfeffer, Austernjus, Champignon-Extraktion und Vin Jaune.

Das Ergebnis von all der Arbeit ist eine nicht weniger als sensationelle Hochzeit von Land und Meer, ein Surf 'n' Turf auf höchstem Niveau, das mich nicht wenig an ein Gericht aus dem Taillevent erinnert, bei dem Kalbsbries auf Kaviar und Auster traf. Doch die Umsetzung von Alléno ist mit all ihren technischen und geschmacklichen Details das kleine Bisschen besser, das Speisen von souveränem Weltklasseniveau und einer Handvoll prägender Gerichte fürs Leben unterscheidet. Davon werde ich noch in Jahren erzählen. (10/10)

Da sitze ich hier, sprachlos, den feinen Burgunder schwenkend, in einem absurd luxuriösen Wintersportort und genieße ein Essen, das mich in unerwarteter Weise glücklich macht. Die Freude ist mir anzusehen, damit halte ich nicht hinter dem Berg. Es macht Spaß, sie mit dem Service zu teilen. Paradoxerweise ist mein »Einertisch« zweifellos der heiterste im Saal.

Auf exzellenten Käse lasse ich mich auch noch ein. Auch dort macht man alles richtig, was richtig zu machen ist. Anstatt eines Überangebots gibt es eine Handvoll ausgewählter Sorten aus der Region, die weltweit zu den besten Käseregionen zählt.

Dazu gibt es einige originelle Condiments sowie einen schlichten Feldsalat mit frisch gehobeltem Périgord-Trüffel – wie immer hätte ich hier mit einem Hobel anstatt der Feile eher vorliebgenommen, aber das ist nur eine Randnotiz.

Die Desserts heißen »süße Emotionen«. Meine Wahl fällt auf Ravioli à la frangipane de courge (45 €). Es handelt sich dabei um eine außergewöhnliche Kombination von Ideen aus der herzhaften Welt und der Welt der süßen Träume. Einen Teller zieren klassisch gekochte, mit einer Kürbis-Mandelcreme gefüllte und anschließend mit Orangenzesten und Amaretto karamellisierte Ravioli; in einem weiteren Schälchen gibt es dazu ein Buttermilcheis zu Haselnuss und bitterer Orangenmarmelade. Am Gaumen finde ich die heiße, bissfeste Pasta zu bittersüßer Zitrusfrucht und einem Hauch Trüffel, der hierzu regelrecht süß schmeckt. Das Eis kühlt kontrastierend ab und bietet nussigen Knusperspaß. Auch das ist großartig. (9/10)

Zum Abschluss gibt es noch ein paar scheinbar banale, tatsächlich grandiose Schokoladenpralinen sowie Stückchen von halbgetrockneter Ananas, die mir jetzt aber wirklich eine kleine Freudenträne entlocken. (9/10)

Dass man ausgerechnet hier in Courchevel eine derart kreative und »unauffällige« Küche serviert, die ihre Großartigkeit in zunächst oft unsichtbaren Details versteckt, begeistert mich am meisten. Alléno und sein Team verstellen sich keine Spur für die Klientel von Courchevel, auf deren Instagram-Fotos Hummer, Kaviar und Blattgold sicherlich mehr Eindruck schinden würden als versteckte Innereienwurst, Salatkopf, und Nudeln zum Dessert. Das ist nicht weniger als grandios und festigt das Spitzenniveau der modernen französischen Hochküche. Jetzt muss ich nur noch wieder runter, ungern, eigentlich.

Informationen zu diesen Besuchen
Restaurant: Le 1947 (→ Website)
Chef de Cuisine: Gérard Barbin
Ort: Courchevel, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 09.12.2022
Guide Michelin (F 2022): ***
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