Arc – Bogen zum Kiez
In meiner Heimatstadt Hamburg geschieht kulinarisch selten Spannendes. Daher gehe ich Neueröffnungen meistens aus dem Weg und lasse erst mal Gras über die Sache wachsen. Beim Arc hat sich diese Taktik nicht bewährt. Nach über zwei Jahren, in denen das Projekt um ein dreiköpfiges junges Team mit renommierten Stationen im Lebenslauf immer wieder als Pop-up von sich hören ließ, gibt es nun eine feste Anschrift in Hamburg-Eimsbüttel – kein Stadtteil, den man mit ambitionierten Restaurants verbindet. Hier macht man eher Umsatz mit Reformhäusern und Fahrradwerkstätten.
Der schlichte Auftritt im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses dürfte aber selbst überzeugtesten Bio-Einkäufern etwas Skepsis aus dem Gesichtsausdruck nehmen. Das Konzept, hyperregional und pescetarisch zu kochen – und ein Zehn-Gänge-Menü für deutlich unter hundert Euro (79 €) zu bekommen –, dürfte viele nicht nur erstaunen, sondern sogar neugierig machen.
Aber dann muss man auch erst mal einen Tisch bekommen. Ich habe nicht schlecht gestaunt, ausschließlich Wartelistenplätze in der Buchungsmaske vorzufinden – und war noch erstaunter, als ich feststellte, dass freigewordene Wartelistenplätze innerhalb von Sekunden wieder weg waren. New Yorker Verhältnisse in Hamburg.
Für einen Freitag im Mai hat es dann schließlich geklappt, und so sitze ich jetzt an einem kleinen Tisch in einem kleinen Speisesaal mit karger Einrichtung. Neben zwei Zweiertischen sind die weiteren Sitzplätze an zwei längeren Gemeinschaftstischen platziert. Der Linoleumboden und die funktionalen Möbel wecken kommunale Kantinenatmosphäre – durchaus sympathisch und zum Konzept passend.
Die Weinkarte macht ebenfalls Laune. Nicht nur, weil sie komplett handschriftlich verfasst ist, sondern weil sie sehr gewissenhaft kuratierte low-intervention-Nischenerzeuger beinhaltet, vorwiegend aus Deutschland und Frankreich. Trotz meiner Vorliebe für klassische Gewächse ist mir eine solche Auswahl um ein Vielfaches lieber als die Copy-Paste-Komfortzone, die man in vielen Hamburger Restaurants vorgesetzt bekommt.
Ich wähle zum Start einen 2022er Bourgogne blanc »Laisse tomber« von Bastian Wolber (120 €), einem der nicht wenigen Deutschen in Burgund, die derzeit für Furore sorgen und kaum auf dem freien Markt erhältlich sind. Dasselbe gilt für Winzerin Catharina Sadde und ihrem Weingut Les Horées. Davon bestelle ich auch schon einen 2023er Gevrey-Chambertin »J’écris ton nom« (225 €). Bitte schon mal beide gleichzeitig servieren.
Das Menü selbst hat das Format eines Lesezeichens und führt zehn Gänge auf. Farbcodes neben den Gerichten verweisen auf die Produzenten der Hauptzutaten, die man in einen kleinen Büchlein (»Freundebuch«) nachschlagen kann. Die kommen alle aus Hamburg und Umgebung.
Die Küche legt los mit zwei Snacks. Einer davon ist eine filigrane Tartelette aus gelber Bete mit geräuchertem Aal, Kirsche und einer Fichtensprosse »aus dem letzten Sommer«. Eine Creme aus geröstetem Hafer hält alles zusammen. Ein starker Auftakt – mit Texturen von knackig bis cremig, sommerlichen Lagerfeueraromen, tiefem Umami und belebender Säure. Selten wirkt Aal so elegant. (8/10)
Ein »Churro« mit Deichkäse – als Creme und gehobelt – und Pilzessiggelee hat danach zwar wenig mit der namensgebenden iberischen Süßigkeit zu tun, schmeckt dafür käsig, leicht und herzhaft, wie ein Gougère. (Meine Recherchen ergeben zudem, dass es in Uruguay auch eine mit Käse gefüllte Churro-Variante gibt.) Sehr gut. (7/10)
Zu einem Sauerteig-Focaccia mit köstlicher brauner Kruste serviert man im Anschluss aufgeschlagene Butter mit Schnittlauchöl und Rote-Bete-Reduktion – ein Ensemble, das einen an das ausgezeichnete Brot-und-Butter-Gedeck im 100/200 Kitchen erinnern kann.
Der nächste Gang ist eine Augenweide. In geschmackvollem Altrosa und Blattgrün präsentiert sich ein Sud aus Miesmuscheln und Hechtgarum mit Johannisblattöl, pochierter Auster, Austernemulsion und Algen. Unreife Johannisbeeren und verschiedene Blüten ergänzen die kühle Kreation mit etwas Bitterkeit. Und trotz des maritimen Leitmotivs bleibt der Gang wegen einer hauchfeinen Süße angenehm gefällig und frühlingshaft »saftig«. Ich wüsste nicht, dass ich in Hamburg jemals Vergleichbares auf dem Teller hatte. (7,5/10)
Danach folgt ein Schälchen mit einer Creme aus Kräuterseitlingen, die in einem Quittensud mit Kräuteröl angerichtet sind. Ein kleiner Radicchio-Salat und ein Radicchio-Chip mit Holunderkapern und Fenchelblüten toppt das Arrangement, das besonders mit feinen Säure-Abstufungen auf sich aufmerksam macht – von der etwas schärferen Quitte bis zur feinen Pilzcreme, die kurioserweise ein wenig an Foie Gras erinnert. Erneut sehr fein. (7/10)
Dass der nächste Gang abermals in einer gelbich-grünen Suspension angerichtet ist und wieder rosa Blüten zum Einsatz kommen, wirkt etwas repetitiv; dennoch liefert ein Stück Saibling mit Fenchel-Kimchi, Tomaten-Sake-Sud und einem Sauerampfer-Sorbet ganz eigene Eindrücke. Der erste ist, dass der Saibling zwar »sanft gegart« wurde und »vom Forellenhof Benecke« stammt, aber trotz dieser wohlklingenden Attribute wenig Geschmack hat. Auch die Festigkeit des Fischs irritiert. (Beste Qualitäten geben saftig-buttrig nach und schmecken nach Bächen, Steinen und Gras.) Der zweite Eindruck bestätigt meine Präferenz, dass Eis und Sorbets außerhalb von Desserts nichts zu suchen haben, vor allem, weil der Temperaturkontrast zu groß ist – auch hier. Geschmacklich ergibt sich zwar insgesamt ein stimmiges Bild, aber qualitativ und konzeptionell ließe sich das zweifellos schärfen. (6,9/10)
Zwar begegnet einem auch bei der nächsten Kreation schon wieder eine gelbe Sauce mit grünen Flecken, doch die schaumige Erdnuss-Beurre-blanc mit Korianderöl setzt sofort einen eigenständigen Akzent. Unter Blättern von Kopfsalat finden sich dazu gegrillte, fermentierte Karotten, angemacht mit hausgemachter Sweet-Chili-Sauce. Deren fruchtbetonte Aromen von Chili, Ingwer und Quitte verschmelzen mit dem süßen Umami der Karotten zu einem würzigen, harmonischen Ganzen. Der Clou ist die prägnante, aber kontrollierte Schärfe, die sich wie ein roter Faden durch das Gericht zieht. Wieder sehr gelungen. (7/10)
Der letzte herzhafte Gang verspricht mit eingelegter und gebratener Aubergine mit einem Püree aus gegrillter Paprika noch einmal vegetarischen Umami-Genuss. Würze und Röstaromen sind auch das Erste, das man am Gaumen wahrnimmt, jedoch nicht plakativ, sondern präzise justiert. Eine elegant gebundene Safran-Hollandaise (aus Brandenburger Anbau) bringt Tiefe und leise Exotik ins Spiel, während ein Jus aus Zwiebeln und Pilzgarum für den dunklen, pikanten Unterton sorgt, der das Gericht abrundet. Insgesamt kraftvoll, ausgewogen – und ein würdiger Abschluss der herzhaften Folge. (7,5/10)
Und so schnell ich mich hier an das beachtliche kulinarische Niveau gewöhnt habe, so sehr wird der Abend durch etwas getrübt, das eigentlich selbstverständlich sein sollte – und hier komplett fehlt: echte Gastfreundschaft. Der Service wirkt den ganzen Abend weitestgehend apathisch, fast unbeteiligt. Kein Lächeln, keine Konversation, keine Souveränität, keine Lässigkeit, nicht nur an unserem Tisch. Das ist so schade wie seltsam. Denn trotz aller Genüsse auf dem Teller beginnt meine Stimmung jetzt zu kippen. Eine Exit-Strategie muss her. Die ersinne ich während der Desserts.
Das erste ist richtig gut. Auch wenn das Granité aus Petersilie und Zitronenverbene mit Johannisbeerholz-Creme, Stachelbeere und Johannisbeeren etwas verkopft aussieht, schmeckt es fabelhaft: nach Chlorophyll und Nadelwald, mit ätherischer Frische und subtiler Bitterkeit. (7,5/10)
Das zweite Dessert – ein Walnusskuchen mit eingelegten Pflaumen, Kürbiskerncreme, Topinambureis und Pflaumensauce mit Kerbelöl – schmeckt kernig, nussig und »tief«. Ebenfalls sehr, sehr gut. (7,5/10)
Ich weiß jetzt auch schon, wie der Abend weitergehen muss: Ab ins nullkommaeins zu passionierten Gastgebern und guter Stimmung. Dass das arc – französisch für »Bogen« – diesen so weit spannt, überrascht am Ende genau so wie die exzellente Küche hier. Und jetzt sage ich dem arc »au revoir«, oder, wie man in Hamburg sagt: tschüss.