Eichhalde – Scarpetta avantgarde

Es gibt immer wieder das Phänomen, dass ein Restaurant Schlagzeilen macht, von dem man vorher noch nie etwas gehört hat – weil man nicht alles liest, nicht in der Region lebt und schlicht nicht alles mitbekommen kann. Das mit einem Michelin-Stern ausgezeichnete Restaurant Eichhalde in Freiburg ist für mich so ein Fall.

Auf der durch Bewertungen von Essbegeisterten aus aller Welt – auch von mir – kuratierten Website Opinionated About Dining taucht das Restaurant aktuell an Platz 15 der besten Restaurants in Deutschland auf, noch vor manchem Drei-Sterner. Solche Listen und Platzierungen sind naturgemäß mit Vorsicht zu genießen, doch als sich gleichzeitig auch Beiträge auf Social Media von teils weitgereisten Essern über das Restaurant häuften, war meine Neugier geweckt. Immerhin gibt es einen direkten ICE von Hamburg nach Freiburg – auch, wenn der so lange braucht wie manch Transatlantikflug.

Das nach einer Straße benannte Restaurant, das bereits seit Jahrzehnten hier verwurzelt ist, wurde 2019 nach vorheriger Schließung von Federico Campolattano und seiner Frau Valentina Tito übernommen. Campolattano kochte zuvor jahrelang an der Seite von Niko Romito im dreifach besternten Reale in den Abruzzen, das für eine radikal reduzierte, progressive italienische Küche steht.

Das Interieur des Restaurants ist schlicht gehalten; alle Tische schmiegen sich an die Wände des Speisesaals. Von Beginn an geht es hier sehr persönlich zu – das Inhaberpaar kümmert sich selbst um die Gäste.

Aber erst mal ankommen. Aus der kleinen, aber feinen Weinkarte wähle ich einen 2021er Chardonnay »Doran« der Kellerei Andrian aus Südtirol (130 €). Offiziell stehen ein umfangreicheres »modernes« und ein etwas kürzeres »traditionelles« Menü zur Auswahl, jeweils mit unterschiedlich wählbarer Gängeanzahl, im Preisbereich zwischen 89 € und 215 €. Das klingt etwas kompliziert, daher überlasse ich Campolattano einfach die Wahl.

Das Mahl beginnt mit einem Trio herzhafter Einstimmungen. Ein Cornet mit Kalbslebercreme, Haselnuss und Balsamico tradizionale erinnert geschmacklich an feine Leberwurst, wobei der süßsäuerliche Essig angenehm gegenhält. Sehr gut, aber auch etwas wuchtig (6,9/10). Eine frittierte Praline mit Kabeljau und Zitrusgel ist heiß, würzig und weckt Parallelen zu portugiesischen Pastéis de Bacalhau (6,9/10).

Eine Tartelette mit rohen Champignons, Champignonpuder und Champignoncreme befindet sich geschmacklich im erdig-waldigen Spektrum. Bewusst wird hier Bitterkeit zum Thema gemacht, was appetitanregend ist, aber wegen der Creme herrscht erneut ein eher schwerer Eindruck am Gaumen (6,9/10). Erst ein Cannolo mit Frischkäse, Schnittlauch und einer markanten Sardelle bringt etwas Leichtigkeit ins Spiel – mit guter Salzigkeit und klarer Aromatik –, wenngleich die Proportionen gerne mehr zugunsten des Fischs hätten ausfallen dürfen (7/10).

Abgesehen von der mir etwas fehlenden Leichtigkeit zeigt dieser Start bereits in eine Richtung, die sich gänzlich von allem abhebt, das man sonst von italienischen Restaurants – nicht nur in Deutschland – kennt.

Der erste offizielle Gang des mir noch unbekannten Menüs kombiniert Blattspinat mit sizilianischer Mandel. Der Spinat ist eher kühl und umrahmt eine mit Basilikumöl aromatisierte Mandelmousse. Das ist ein radikal reduziertes Gericht, das grüne und bittere Noten zum Leitmotiv erhebt – eine Herausforderung, die hier souverän gelingt. Doch auch hier: die massige Creme kostet etwas Überwindung. (7/10)

Gang zwei präsentiert ein bemerkenswert dickes, von der Form fast an eine Jakobsmuschel erinnerndes Stück Tintenfisch unter einem dekorativen Saucentrio aus Spargelcreme, salziger Zabaione und Sepiatinte. Durch die 24-stündige Garung des Mollusken entsteht eine mürbe, faserige Konsistenz, die an Hähnchenfleisch erinnert – sonderbar, aber gelungen. Geschmacklich dominiert der weiße Spargel, der Salzgehalt ist gekonnt austariert. Ein leises, puristisches Gericht mit ungewöhnlichem Aufbau (7/10). Ich muss bei den letzten Gerichten automatisch ans Reale denken, ohne die Vita des Küchenchefs zu kennen.

Hatte ich gerade »ungewöhnlich« gesagt? Regelrecht avantgardistisch wirkt das nächste Gericht, das von Vitello Tonnato inspiriert ist. Zentral auf dem großen weißen Teller thront eine etwa golfballgroße Sphäre wie aus einer fremden Welt: rosa umhüllt, rot bestäubt und in goldgrün schimmerndem Olivenöl ruhend. Die Zutaten entpuppen sich als dick geschnittenes Milchkalb, Rucola-Püree und Portweinschaum – der Staub fruchtig und herb, vielleicht Himbeere. Das Fleisch selbst ist eher auf der trockenen Seite und schlicht gewürzt, Aromen und Geschmack kommen von außen – durch pflanzliche Bitterkeit und minimale Süße. Ich will nicht sagen, dass ich diese Version dem klassischen Vitello vorziehe, aber denkwürdig ist das auf alle Fälle. (7/10)

Die angenehm unkonventionelle Reise schlägt mit dem nächsten Gang klassischere Töne an: Es gibt Linguine alla Nerano, ein Gericht aus dem gleichnamigen Küstenort an der Amalfiküste, das ich zuletzt vor gut einem Jahr in vollendeter Schlichtheit im Quattro Passi erleben durfte. Neben den traditionellen Zutaten – Pasta, frittierte Zucchini und Provolone del Monaco – wurden die Nudeln hier zusätzlich in einer Zucchinicreme geschwenkt, was dem Ganzen eine weichere, fast samtige Textur verleiht und die Aromatik deutlicher ins Grüne verschiebt.

Die Pasta stammt vom renommierten Hersteller Pastificio dei Campi und ist perfekt al dente gegart. Der deutliche Fokus auf vegetabile Noten – Basilikum, Zucchini, Olivenöl – entfernt sich zwar leicht vom klassischen Geschmacksbild, doch das Resultat ist ein überaus gelungener Pastagang. (7/10)

Inzwischen steht auch ein Rotwein auf dem Tisch, ein 2019er Barolo »Monfalletto« des Weinguts Cordero di Montezemolo (165 €). Erst meine spätere Recherche der mir weitestgehend unbekannten Weine der Karte ergibt, dass die Kalkulationen hier recht happig sind – dieser Barolo ist für knapp über 50 € als Endverbraucher zu beziehen.

Zu meiner Freude folgt nun ein weiterer Pastagang: Spaghetti alla Chitarra mit Alpenbutter und Osietra-Kaviar. Alla Chitarra bezeichnet eine traditionelle Technik, bei der der Pastateig mithilfe eines mit Stahldrähten bespannten Holzrahmens – der namensgebenden »Gitarre« – geschnitten wird. So entsteht eine Pasta mit eckigem Querschnitt und rauer Oberfläche, ideal zum Aufnehmen von Sauce.

Bei frischer Pasta ist es oft schwierig, eine wirklich al dente Textur zu erzielen, was hier jedoch auch nicht im Vordergrund steht. Das Gericht lebt ganz von seiner radikalen Schlichtheit: cremige Butter, zart gegarte Pasta und der Kaviar, der mit salzigen Spitzen für Kontraste sorgt. Mehr braucht es nicht, um so gut wie alle Pastagerichte, die ich in Deutschland bislang gegessen habe, zu übertreffen. Absolut hervorragend. (8/10)

Und das geht nahtlos weiter. Das nächste Gericht greift eine traditionelle Geste auf, die in Italien nur bei der Zubereitung des Eintopfgerichts Minestra salonfähig ist: das Zerkleinern langer Pasta, um sie in einer leichten Brühe oder Sauce servieren zu können – ursprünglich eine Zubereitungsart für Kinder, wie es ein begleitendes Tischkärtchen erläutert. In diesem Fall wurden Fresine-Nudeln von Pastificio dei Campi mit rohen sizilianischen Garnelen, Krustentierbisque, Petersilienöl und etwas Knoblauchschaum kombiniert. Das Ergebnis ist ein würziges, salziges und öliges Vergnügen, akzentuiert von dem glasigen Schmelz der kühlen Krustentiere. Die bissfeste Pasta verleiht dem Gang Substanz. Balance und Ausführung sind hier erneut hervorragend. (8/10)

Zum Glück folgt noch ein weiterer Pastagang – ich könnte davon gar nicht genug bekommen. Hier werden mit Mortadella und Prosciutto gefüllte Cappelletti präsentiert, die ganz unaufgeregt in einer Sahnesauce mit fünf Jahre altem Parmesan ruhen. Das Pasta-Handwerk ist erneut tadellos, das Genusserlebnis cremig, samtig, umami – exzellent. (7,5/10)

Meine anfänglichen Bedenken hinsichtlich der Portionsgröße haben sich glücklicherweise nicht bestätigt – die Gänge sind klug austariert. Eine neue Flasche ist auch schon offen: ein 2018er Barolo von Pio Cesare (149 €).

Mit geschmorter Wagyu-Zunge serviert Campolattano eine Hommage an kulinarische Kindheitserinnerungen. Über neun Stunden in Wasser gegart, dabei lediglich mit etwas Lorbeer und Rosmarin aromatisiert, kommt das zarte, faserige Fleisch ganz ohne Effekthascherei aus. Nur mit Meersalz gewürzt, angerichtet in einem tiefdunklen, glänzenden Jus aus Wermut und Marsala ist dieser Teller in seiner Klarheit erneut kompromisslos.

Obwohl das Fleisch und die dichte, aromatische Sauce qualitativ für sich allein sprechen, steht à part eine Giardiniera bereit – mit Blaubeeren, Weintrauben und bitter-säuerlichem Gemüse, sehr fein abgestimmt. Und wenn von Fleisch und Beilagen nichts mehr übrig ist – was schneller geschieht, als mir lieb ist –, wartet noch ein gedämpftes Brötchen, das mit Petersilie und Zitrone parfümiert ist. Für die Scarpetta. Himmlisch! (8,5/10)

In die Süßspeisen leitet die Interpretation einer Panna cotta über, die mit einer Zubereitung aus Vanillecreme und Mandarinengelee in einer Eierschale zum Auslöffeln angerichtet ist. Leider bleibt die Zitrusfrucht aromatisch blass, sodass außer der Süße der Vanillecreme nicht mehr viel passiert. (6,5/10)

Mit dem offiziellen Dessert wird ein weiterer Klassiker neu interpretiert: Pastiera, jener neapolitanischer Osterkuchen, der traditionell unter anderem mit Ricotta, Vanille und Zitrusfrüchten zubereitet wird. Im Mittelpunkt steht ein Zitronensorbet, das in einen luftigen Vanilleschaum gebettet ist. Zusammen mit einem knusprigen Teigornament in Form von Pflanzen entsteht ein wolkiges, zitrusfrisches Dessert mit gelungener Balance zwischen Vanille und Zitrusfrucht. (7/10)

Eine duftende Brioche mit Zabaioneschaum als Dip rundet das Essen schließlich ab. (7/10)

Nennt man Federico Campolattano bald in einem Atemzug mit Massimo Bottura, Niko Romito und Enrico Crippa? Gut möglich – nicht wenige der Gerichte heute Abend schmeckten mir besser als bei manchem der ganz Großen. Eines aber steht fest: Ein innovativeres, klischeefreieres italienisches Restaurant hat man in Deutschland wohl noch nicht erlebt. Dafür gebührt dem jungen Inhaberpaar, ganz schlicht, viel Amore.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Eichhalde (→ Website)
Chef de Cuisine: Federico Campolattano
Ort: Freiburg, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 20.06.2025
Guide Michelin (Deutschland 2025): *
Meine Bewertung dieses Essens: 7 (Was bedeutet das?)
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