Restaurant Haerlin – aufgestiegen
Ich kann nicht rekonstruieren, wie oft ich schon im Haerlin, das jetzt offiziell Restaurant Haerlin heißt, gewesen bin – es dürften um die fünfzig Besuche sein. Längst nicht alle sind hier im Blog dokumentiert. Ich habe dort (viele) Höhen und (wenige) Tiefen erlebt, verschiedene Interieurs, diverse Restaurantleiter, Sommeliers und weiteres Personal kennen gelernt, bin zu zahlreichen Anlässen eingekehrt – auch, wenn gar kein Anlass meistens der Anlass war. Dass man inzwischen auch am so genannten Sommelier-Hochtisch etwas legerer speisen kann als an den pikfein eingedeckten Tischen, liegt nicht unwesentlich an mir und meinem Bedürfnis, sich selbst in einem Restaurant dieser Klasse eine Nische der Ungezwungenheit zu schaffen.
Alle meine Besuche hatten jedoch eine Konstante: die technisch präzise, moderne französische Küche von Christoph Rüffer. Seit dreiundzwanzig Jahren kocht er sich hier an die Spitze, zunächst von einem zu zwei Michelin-Sternen und nun, nach dreizehn Jahren mit dieser Wertung, zu dreien.
Viele Gäste – das kann man dem öffentlichen Diskurs entnehmen – halten diese Aufwertung für überfällig. Ein Großteil verwechselt dabei die glanzvolle Gastfreundschaft, die man hier im Zusammenhang mit hervorragender, ästhetisch präsentierter Küche, einem makellosen Weinservice und dem prachtvollen Ambiente erlebt, mit der Antwort auf die Frage, ob das Haerlin allein mit der Qualität auf dem Teller zu den rund 150 besten Adressen der Welt zählt. Und genau das hat der Guide Michelin über das letzte Jahr hinweg nun erstmals so eingeschätzt – nichts anderes. Kein neuer Butterwagen, kein noch so engagierter Service und keine noch so harten Arbeitsstunden in der Küche fließen in die Entscheidung mit ein. (Hier sind einige ungewohnt offene Hintergründe vom Guide Michelin dazu zu lesen.)
Die Sterne seien eine Team-Leistung, hört man oft, aber auch das ist nicht bedingungslos richtig. Nur mit einer Küche, die die Sterne rechtfertigt, gibt es Sterne – der Rest ist Makulatur.
Nach seltenen dreizehn Monaten Abstinenz im Haerlin – also dem gesamten Bewertungszeitraum des Guide Michelin – bin ich daher äußerst gespannt, was sich hier kulinarisch getan haben mag.
Für die erste Veränderung ist nicht mal ein Besuch nötig: Die Speisekarte ist neu strukturiert. Eine Unterscheidung zwischen Amuse-Bouches, dem eigentlichen Menü und einem süßen Ausklang ist einer gleichberechtigten Auflistung von zwölf Speisen gewichen. Das ist zwar zunächst nur eine typografische Änderung, aber sie signalisiert eine Reduktion aufs Wesentliche.
Das Menü kostet jetzt souveräne 350 €, etwas oberhalb des deutschen Schnitts auf diesem Niveau. Zusätzlich gibt es weiterhin Gerichte zum Austauschen oder Ergänzen – ein stimmiges, klares Konzept mit ausreichend viel Flexibilität.
Die ersten Speisen probiert man, wenn man möchte, unten in der Küche an einem kleinen Stehtisch. Eine hauchzarte Tartelette mit Büsumer Krabben, Saiblingskaviar, eingelegten Schalottenringen und Zitrusgel bringt Rüffers elegant-maritime Handschrift exemplarisch zur Geltung (8,5/10); eine Parmesan-Croustade mit perfekt abgeschmecktem und angenehm senfbetontem Rindertar, Miso-Aubergine und Trevisano sowie eine knusprige Kartoffelschnecke mit gebeizter Sardine und Fetacreme sind dann noch besser, weil großartig in Klarheit und Reduktion (beide 9/10). Während angeregter Gespräche vergesse ich glatt, Fotos zu machen. Eine heiße Pfifferlingsessenz mit pochiertem Wachtelei und Bärlauchöl ist danach umamitief, waldig und kraftvoll-elegant (9/10).
Am Platz im Restaurant geht es dann zuerst mit hausgebackenem Brot weiter. Ein Sauerteigbrot und ein japanisches Milchbrot (Fujisan) ersetzen auf hohem Niveau die mir bisher bekannte Variation mit verschiedenen Broten und Brötchen. Dazu gibt es gesalzene Butter des Käseaffineurs Bernard Antony, die man optional mit Kräutern oder Zitrone verfeinern lassen kann, und eine Sauerkrautcreme.
Offiziell hat man jetzt auch schon fünf Positionen aus dem Menü abgehakt, was die restliche Menge bewältigbar erscheinen lässt.
Es folgt schottischer Label Rouge-Lachs von der Isle of Mull, von dem ein quaderförmiges, sanft gegartes Filetstück zwischen zwei hauchdünnen, knusprigen Toastscheiben eingefasst ist. Begleitet wird der Fisch von einer elegant interpretierten Marie-Rose-Sauce sowie fein gewürfeltem grünem Gemüse wie Spargel, Gurke und Erbsen. Etwas Meerrettich setzt frische Akzente, ohne dabei die Balance zu stören. Das ist sauber gearbeitet, sehr harmonisch und mit überzeugendem Hauptdarsteller. (8/10)
Im Glas habe ich dazu gerade einen offen ausgeschenkten 2022er Chardonnay »Alte Reben« vom Weingut Bernhard Huber mit reduktiver Nase und köstlichem Schmelz. Für den weiteren Verlauf greife ich heute mit einem 2022er Vosne-Romanée 1er Cru von der Domaine de la Romanée-Conti (750 €) ins höhere Regal.
Der nächste Gang hat Taschenkrebs zum Thema. Dessen gezupftes Fleisch ist ringförmig in einem luftig aufgemixten Limetten-Kefir-Sud angerichtet, der filigran zitrusfrisch schmeckt und zusammen mit Koriander behutsam in eine mittelamerikanische Aromawelt gelenkt wird, die Fernweh erzeugt. Ein Apfel-Avocado-Ceviche und etwas Krustentiersud fügen Komplexität und Tiefe hinzu. Das Gericht begeistert durch die klare Fokussierung auf das edle und großzügig portionierte Krustentier, dessen maritime Süße und nussiger Geschmack ablenkungsfrei im Mittelpunkt stehen. Durch die sehr präzise Dosierung aller Komponenten wird eine bemerkenswerte Balance erreicht – ein weiteres kleines Korianderblatt hätte hier alles kippen können. Große Klasse. (9/10)
Seezungenfilet »Meunière« präsentiert danach zwei in Nussbutter gebratene Filetstücke des edlen Speisefischs mit unterschiedlichen, mediterran fundierten Mitspielern. Artischocke – als tourniertes und gebratenes Herz sowie als samtiges Püree – liefert erdige, vegetabile Tiefe und herbe Frische, ein Petersilie-Parmesan-Tortelli sorgt für Schmelz und Umami; Beluga-Kaviar bringt kühle Salzigkeit und jodige Akzente. Zusammengeführt wird das Ensemble von einem angenehm heißen Artischocken-Zitrussud mit Olivenöl, dessen lebendige Frische und präzise gesetzte Säure dem Gericht Balance und Eleganz verleihen. Die präsenten Zitrusnoten sind längst eine Konstante in Rüffers Handschrift und sorgen auch hier für Klarheit. (8,5/10)
Dann folgt Petersfisch in einer stringent reduzierten Zubereitung. Ein akkurat geformtes, sanft gegartes Filetstück ist in Zucchiniblüte gehüllt, getoppt mit einer Pomme soufflée und etwas Fenchelcreme. Letztere taucht zusätzlich zweifach auf der Tellerfahne auf – ein dekoratives Detail, das in der klaren Präsentation fast ornamental wirkt. Der Fisch selbst überzeugt durch erstklassige Qualität und eine präzise Garung, die seine fleischige, dichte Textur authentisch belässt. Der eigentliche Höhepunkt ist die Sauce: ein aufgeschäumter Paprikasud mit reifer Süße, intensiver Paprikafrucht, ohne jede Spur von Bitterkeit. Ein separates Kännchen erlaubt es, die Aromatik nach Belieben zu steuern. Dezente Zitrusaromen bringen auch hier frische, mediterrane Leichtigkeit ins Bild. Erneut mehr als hervorragend. (8,5/10)
Dann folgt ein Zusatzgang, ein Duo aus geröstetem Kalbsbries und Helgoländer Hummer. Zwei goldbraun gebratene Nüsschen vom Bries zeigen sich röstig und saftig, mit feiner Karamellisierung und appetitlichem Schmelz. Wie auch die weiteren Komponenten – nussig süßlicher Hummer, mit Kerbelcreme gefüllte Spitzmorchel, grüner Spargel, Postelein, Tomate – sind diese um ein Saucenduo aus Kalbsjus und einem Krustentierschaum arrangiert. In dem optisch ansprechend komponierten Ensemble begeistert die Möglichkeit, zwischen puristischer Produktpräsenz und der süffigeren Kombination mit den Saucen justieren zu können. Die konzentrierte Tiefe des Kalbsjus und die Leichtigkeit des Krustentierjus sind erneut, wie alle Saucen hier, auf höchstem Niveau. Sehr stark. (8,9/10)
Das mit den Saucen bestätigt sich erneut beim letzten herzhaften Gang. Hier steht ein mit Balsamico glasiertes Rehkarree im Mittelpunkt, rosa gegart, mit geröstetem Buchweizen getoppt und in einem spiegelnd reduzierten Rehjus angerichtet. Das Reh ist von triumphaler Qualität – saftig, zart, klar im Geschmack. Man merkt sofort, anders als zuweilen beim Fisch, wenn der Zugriff auf wirklich außergewöhnliche Bezugsquellen gelingt, mit denen man in Hamburgs Restaurantlandschaft herausragt. Während Reh und Jus bereits großen klassischen Genuss bieten, findet man auf dem Teller weitere, bewusst sparsam dosierte Begleiter: eine angenehm süßlich-nussige Kohlrabicreme, ein bissfestes Olivengnocchi, etwas Mayonnaise mit schwarzem Knoblauch für sanfte Würze und fermentierte Tiefe. Mit einer separat servierten Wacholdersabayon kann man dazu nach Belieben leicht waldige, fast ätherische Anklänge dosieren. Großartig. (9/10)
Die erste Berührung mit der Patisserie ist eine schlicht anmutende Kreation mit einer Nocke von orangegelbem Ananas-Safransorbet. Das ist auf einer Art Taler mit geeistem Mezcal angerichtet – alles wiederum thront in einem Basilikumdestillat mit Jalapeñoschärfe. Was auf dem Papier nach einer gewagten Kreation klingt, ist nicht weniger als spektakulär: Exotische Süße, rauchige Tiefe, kräuterige Frische und pointierte Schärfe verbinden sich zu einem Dessert von futuristischer Aura und transparenter Intensität. Aufwühlend. (10/10)
Es folgt noch ein Dessert mit französischen Walderdbeeren. Eine gute Handvoll davon ist auf einer ringförmigen Haferganache angerichtet und wird von einigen Tupfen Fichten- und Erdbeergelee begleitet. Eine Nocke Holunderblütensorbet ergänzt den verführerischen Erdbeerduft, der dem Teller entströmt, um florale Noten. Das ähnelt, wie auch das vorherige Dessert, der Arbeit eines Parfümeurs. Die Aromen sind am Gaumen äußerst balanciert: intensive, klare Erdbeerfrucht, eine erdende, leicht nussige Ganache, feine Kräutertöne vom Fichtengelee und eine blumige Frische des Sorbets. Separat dazu gibt es noch ein Schälchen mit weiteren Erdbeeren der Sorte Clery mit kalten Akzenten eines Weizengrasgranités und einem himmlisch wolkigen Quarkschaum. Das kommt direkt aus dem Schlaraffenland. (10/10)
Die Pralinen und Petit-fours lasse ich mir noch einpacken – es wird mein luxuriöses Proviant für eine frühe Zugfahrt morgen.
Dass der Guide Michelin dem Haerlin nach dreizehn Jahren nun den dritten Stern verleiht, wird viele Beobachter wenig überraschen, verlangt aber eine differenzierte Einordnung. Handwerklich glänzt die Küche jedenfalls durch makellose Präzision und Balance; die Patisserie setzt derzeit sogar Maßstäbe. Zugleich fällt auf, dass die Gerichte spürbar reduzierter auftreten, was ihnen zusätzliche Klarheit verleiht und die Aromen noch deutlicher zur Geltung bringt.
Gleichzeitig liegt die Messlatte auf dieser Ebene, gerade im internationalen Vergleich, naturgemäß hoch. Rüffers Zutaten sind im deutschen Kontext tadellos; die schiere Bandbreite, auf die kosmopolitische Adressen in Paris oder New York zugreifen können, bleibt hierzulande jedoch enger.
Die kontinuierliche Herausforderung wird es daher sein, dem perfekten Handwerk immer auch die dazu passenden Spitzenprodukte an die Seite zu stellen, die auch dem am weitesten gereisten Esser klar machen, warum es genau hier – und nur hier – so schmeckt.
Und falls mein Zug morgen Verspätung hat, werde ich immerhin der einzige Fahrgast sein, der sich mit Drei-Sterne-Pralinen darüber hinwegtrösten kann.