Le Coquillage – bis das Meer zurückkehrt

Bis zu fünfzehn Kilometer zieht sich in der Bucht von Saint-Méloir-des-Ondes bei Ebbe das Meer zurück. Als ich das Abendessen hier beginne, blicke ich bis zum Horizont auf Meeresboden. Es wirkt, als wäre man auf einem anderen Planeten.

Château Richeux (bei ablaufendem Wasser), Saint-Méloir-des-Ondes

Schon am Nachmittag saß ich hier im Garten des Château Richeux und bestellte eine Flasche Champagner – während ich, auch da schon, vergeblich das Meer suchte. Mit dem Jacques Selosse »Initial« (332 €) im Glas, dem Salz in der Luft und der Sonne im Blick kann man hier schon in den Abend starten, bevor er überhaupt begonnen hat.

Das Château, eine hundert Jahre alte Villa, gehört zum weitverzweigten Besitz der Familie Roellinger. Koch, Gastronom und Hotelier Olivier Roellinger wurde berühmt für seine Arbeit mit Gewürzen – und nicht zuletzt durch sein tiefes Gespür für das Meer und die Bretagne. Im benachbarten Cancale führte er das Familienrestaurant La Maison de Bricourt im Jahr 2006 zu drei Michelin-Sternen. Nur zwei Jahre später schloss er es aus gesundheitlichen Gründen wieder.

Hier im Château Richeux betreibt die Familie seit 1992 ein Gasthaus, das zur renommierten Hotelvereinigung Relais & Châteaux gehört und das Restaurant Le Coquillage beherbergt – ursprünglich ein Bistro. 2014 steigt Sohn Hugo, zuvor Seefahrer, in den Betrieb ein und führt es 2019 zu zwei, 2025 schließlich zu drei Michelin-Sternen.

Der Abend knüpft nahtlos an die Szenerie des Nachmittags an: Das Dîner, das in der sehr ansprechend gestalteten Speisekarte (nicht im Bild) mit 255 € annonciert ist, beginnt im Garten. Bei leichter Brise werden erste Appetizer serviert, die bereits den Rahmen für die pflanzlich-maritime Küche von Hugo Roellinger umreißen.

Eine gratinierte Venusmuschel probiere ich als erstes; sie ist noch warm und bemerkenswert raffiniert gewürzt: pikant, salzig, umamitief, geheimnisvoll, großartig (8,9/10). Eine Miesmuschel mit einer Sauce aus Gartengewürzen folgt. Auch sie ist leicht pikant, was mir gefällt, und schmeckt intensiv nach Fenchel, obwohl die gelbe Blüte obenauf eine andere zu sein scheint. Auch dieser winzige Snack entzieht sich bekannten Geschmacksbildern und begeistert mit mutigen, aber harmonischen Aromen (8,9/10).

Eine Tartelette mit konfierten Tomaten, Sardellen-Senf, Rosenessig und Rosenblättern besticht danach mit einem Teig, der an die mürb-weiche Konsistenz einer Pissaladière erinnert – in Kombination mit feiner Süße, elegantem Umami und einem poetischen Rosenaroma. (9/10)

Es folgt ein Happen zum Auslöffeln mit Gurke und weißem Borretsch. Hier steht geschmacklich eine intensive Gurke im Vordergrund – erfrischend, saftig und sommerlich, aber nicht so komplex wie die vorherigen Gänge. Muss auch nicht. (7/10)

Das letzte der Amuse-Bouches ist eine Blüte von Kapuzinerkresse mit (selbst angebauter) Yuzu und Buchweizen. Spannend sind hier vor allem der knackige Biss und die samtige Textur der Blüte sowie expressive florale Aromen. Faszinierend gut. (8,9/10)

Langsam wird es hier oben am Klippenrand auch etwas frisch, weswegen ich um eine Fortsetzung im Restaurant bitte.

Ich hatte schon am Vormittag Gelegenheit, in der Weinkarte zu stöbern. Während des (sehr guten) Frühstücks in denselben Räumlichkeiten ließ ich mir diese aushändigen, fotografierte jede Seite ab und konnte so in Ruhe über mögliche Begleiter zum Abendessen nachdenken.

Die Karte ist ausreichend umfangreich, erwartungsgemäß auf Frankreich fokussiert (aber nicht darauf beschränkt) und fair bepreist. Das Weißweinsortiment ist etwas breiter aufgestellt, aber nach dem Selosse ist mir nun nach etwas Rotem aus dem Burgund. Trotz einer Reihe guter Optionen fällt mir die endgültige Wahl zunächst schwer. Die Lösung finde ich erst am Abend – und sie gefällt mir umso besser: Im zuvor überblätterten Abschnitt mit halben Flaschen entdecke ich zwei spannende Weine der Domaine Mugneret-Gibourg: einen 2006er Chambolle-Musigny 1er Cru »Les Feusselottes« (115 €) und einen 2011er Vosne-Romanée (89 €). Eine eigene kleine Mugneret-Degustation für zweihundert Euro veranstalten zu können, halte ich für eine der besten Ideen, auf die man mit dieser Karte kommen kann.

Das Menü trägt den poetischen Titel »Au Gré du Vent et de la Lune« (etwa: »Im Spiel von Wind und Mond«) und beginnt offiziell mit einer Infusion vom Maipilz und Kräutern, verfeinert mit Blumenessig und Feigenöl. Die klare Brühe wirkt am Gaumen wie ein Spiegel des Meeres – transparent und kühl. Statt maritimer Aromen entfalten sich jedoch eher waldige Noten, die mit ihrer Tiefe eine weitere Parallele zum Ozean eröffnen. Ergreifend gut und viel zu vergänglich. (10/10)

Es folgt Dorade, roh in vier dünne Scheiben aufgeschnitten und auf der schmalen Seite mit Sumach gewürzt. Der Fisch offenbart am Gaumen Merkmale von herausragender Qualität und sehr gelungener Reifung: er ist zart und mürbe, nicht im Geringsten kaubedürftig. Der Sumach sorgt mit seiner fruchtigen, belebenden Säure und leichten Bitterkeit für Komplexität. Eine begleitende Vinaigrette aus roter Johannisbeere und Duftnessel, in die man den Fisch tunkt, verlängert die Säure in eine saftig-frische Richtung und bringt florale Noten ein. Großartig. (9/10)

Überhaupt liegt eine magische Stimmung über diesem Ort. Das Meer ist noch einige Kilometer entfernt, und die untergehende Sonne taucht den Himmel in ein blasses Blau. Das Restaurant gehört zu jenen Orten, an denen das Essen spürbar mit dem Terroir verbunden ist.

Dann geht es regelrecht japanisch weiter. Der Service entnimmt das gezupfte, gegarte Fleisch einer Seespinne direkt aus ihrer Schale und richtet es auf dem Teller an, wo bereits eine Sauce flibustière wartet. Die reichhaltige, dichte Fischsauce bringt Aromen hervor, die an Estragon und Anis erinnern. Blumiger, pikanter Jeekarimundi-Pfeffer und wilder Fenchel rahmen das Gericht fein ein, ohne den Eigengeschmack der Krabbe zu überdecken. Im Mittelpunkt steht ganz klar das Produkt – und was für eines: die Seespinne ist herausragend in Textur und Geschmack. Ein Gang von souveräner Klarheit und größtem Genuss. (10/10)

Der nächste Gang präsentiert zwei Exemplare vom Kaisergranat, »transparent« gegart, mit Blüten und Blütenstaub gewürzt und auf Blättern von Kapuzinerkresse angerichtet. Die Krustentiere werden darin eingerollt und in einen Schaum aus Honigwein getaucht, der mit Tomatenpuder aromatisiert ist. Die Kombination aus feiner Säure, behutsamer Bitterkeit und süßlich-mildem Fleisch ist zum Augenschließen wohlschmeckend. Als wäre das des Genusses noch nicht genug, wird alles noch durch ein kühles Süppchen aus Tomatenwasser und Liebstöckel ergänzt, in dem sich zusätzlich das Fleisch aus den Scheren findet. Es greift die floralen Noten auf, bringt aber auch neue Akzente ins Spiel: kühle Klarheit, Zitrusaromen und eine feine Süße. Grandios. (10/10)

Mit dem nächsten Gang wird es wieder etwas reduzierter. Die Komplexität der Gänge folgt, wie das Meer, einem Wellenmuster. Es gibt eine über Holzkohle gegrillte Auster, mundgerecht präpariert und in einer Sauce mit Mandelmilch, Engelwurz-Öl und Assam-Pfeffer angerichtet. Für Textur sorgen kleingeschnittene frische Mandeln aus Korsika, die an Haselnuss erinnern. Die Auster ist grandios – maritim, mit aromatischen Anklängen an Glut; die Sauce pikant, samtig und elegant süß. Auch dieser Gang ist – in all seiner Klarheit und Selbstverständlichkeit – schlicht brillant. (10/10)

Es geht weiter mit Tintenfisch, der über Holzkohle gegrillt und in dünne Ringe geschnitten wurde. Diese garen sanft in einer Algen-Zitrus-Bouillon nach, in der man zusätzlich ein in Essig konfiertes Eigelb mit wachsweicher Konsistenz sowie aquitanischen Baeri-Kaviar findet, bestäubt mit einem Pulver aus fermentierten Pflaumen. Auch hier ist jedes Detail eine Offenbarung: die wohlige Wärme, der bissfeste, nussige Tintenfisch, Zitrusnoten, die mit feiner Bitterkeit spielen, und eine Geschmackstiefe, die nicht aus Opulenz entsteht, sondern aus Klarheit. Transparent, tief und mitreißend – alles davon erinnert an das Meer, das schon wieder ein Stück näher gerückt ist. (10/10)

Das außergewöhnliche Menü ist noch längst nicht am Ende. Grüne Bohnen sind das Leitmotiv des nächsten Tellers. Sie stammen, wie alles Pflanzliche hier, aus den weitläufigen Gärten hinter dem Château, die die salzige Luft des Ozeans atmen. Die Bohnen auf dem Teller gehören zu den aromatischsten, die ich je gegessen habe – ich hätte kaum vermutet, einmal so sehr für grüne Bohnen zu schwärmen. Serviert werden sie mit einer milchig-trüben, leicht öligen Sauce mit Holunder und schwarzer Johannisbeere, ergänzt durch verschiedene Blüten und Kräuter. Die Temperatur ist angenehm – knapp lauwarm. Die Bohnen haben eine feine Knackigkeit, wie sie nur durch sehr präzises Garen erreicht werden kann.

Aromatisch geschieht hier erstaunlich viel. Je länger man kaut, je mehr Gabeln man sich zusammenstellt, umso mehr unbekannte Duftnoten treten hervor. Säure, Florales, Süße, Wärme – man muss die ganze Zeit genau hinschmecken, um keinen Eindruck zu verpassen. Einige maritim schmeckende Kräuter stellen ganz beiläufig wieder den Bezug zum Meer her. Ein Gänsehaut-Moment. (10/10)

Es ist jetzt fast halb zehn. Wie ein Stundenzeiger, dessen Kreisbewegung man nicht ausmachen kann, ist das Meer jetzt schon gut zu erkennen.

Die Leichtigkeit, die dem Menü innewohnt, ohne dabei auf Tiefe oder angenehme Sättigung verzichten zu müssen, lässt mich auch dem nächsten Gang entgegenfiebern. Und das, obwohl Hummer nicht mein liebstes Krustentier ist. Regelmäßige Ausnahmen bilden bretonische Exemplare – aber auch nicht ausnahmslos alle. Mit dem gestrigen Erlebnis im Bistro de Cancale, das ebenfalls von den Roellingers betrieben wird (Bericht folgt), weiß ich aber schon, mit welcher Qualität ich hier rechnen kann: mit der allerbesten.

Der Hummer für dieses Gericht ist in mundgerechten Stücken in seiner Schale angerichtet, sodass die Zubereitung optisch an Hummer Thermidor erinnert – auch, weil das Fleisch appetitliche Röstspuren aufweist, vermutlich von einer Garung über Holzkohle. Die Qualität des Tiers ist wahrhaftig herausragend: saftig, nussig, mit sanfter, »vanilliger« Süße. Aromatisch wird es ernst: Das Hummerfleisch selbst wurde mit getrocknetem Tomatenpulver gewürzt, das Umamiakzente liefert, dazu wurde eine leicht aufgeschäumte Sauce mit Kakao, Sherry und drei mexikanischen Gewürzen angegossen – Ancho Rojo (ein Chililikör), Guajillo (getrocknete Chili) und Chipotle (geräucherte Jalapeño). Die Sauce bringt Schärfe, Tiefe und eine elegante Bitterkeit.

Die Hummerscheren werden in einem separaten Schälchen serviert – versteckt unter einem schaumigen Hummerjus, aromatisiert mit Mélange Suya (einer afrikanischen Gewürzmischung), Oxalis, Kumquat und Forellenkaviar. Am Gaumen ist das kraftvoll: würzig, pikant, leicht nussig, umami. Insgesamt ist das ein geschmacklich wie texturell komplexes Gericht – und doch bemerkenswert harmonisch. Der saftige Hummer mit seiner fabelhaften Qualität bleibt stets im Mittelpunkt. Was dieses Gericht so großartig macht, ist die Spannung zwischen Intensität und Klarheit: es ist kraftvoll, tief und charakterstark – aber nie überladen. Atemberaubend! (10/10)

Meer und Himmel sind inzwischen zu einem gleichmäßigen Blaugrau verschmolzen. Die Weite wirkt beruhigend – und zugleich rätselhaft, fast bedrohlich. Ich bin jedenfalls lieber hier am Tisch als dort draußen und lasse mich noch auf die Käseauswahl ein (zzgl. 28 €).

Ich notiere die Sorten nicht, aber sie sind ausnahmslos hervorragend: in Qualität, Reife, Temperatur und Präsentation mit einigen Condiments und einem länglichen Teigchip.

Die erste Berührung – im wahrsten Sinn – mit der Pâtisserie macht man mit einem filigranen Kegel aus hauchdünnem Crêpeteig (Crêpe dentelle), den man in die Hand gereicht bekommt. Er ist mit einer Heumousse von den eigenen Wiesen gefüllt und mit einer Passionsfrucht-Tagetes-Blüte dekoriert. Der filigrane Snack schmeckt verführerisch blumig, nach Honig und Exotik. Himmlisch. (9/10)

Die nächste Kreation wird in der Schale einer Jakobsmuschel präsentiert. Darin findet man ein Eis aus Fingertang, getoppt mit gereiftem Osietra-Kaviar, konfiertem Kombu und geraspelter, einem Jahr im »Algenkeller« gereifter Jakobsmuschel. Dass aus dieser maritimen Melange überhaupt etwas dessertartiges wird, ist einer dichten, warmen Karamellsauce aus geräucherter Salzbutter und Haselnussmiso zu verdanken. Hier trifft Salziges auf Süßes, wie zwei Gewässer, die tosend ineinanderfließen. Im Gegensatz zu dem durchaus gängigen Akkord »Karamell/Eis mit Salz/Kaviar« findet hier aromatisch noch deutlich mehr statt. Und wenn dann noch die warme, fast parfümiert wirkende Infusion dazukommt – aus Buchweizen, Basilikum und Kalifornischem Mohn –, entsteht ein weiteres Beispiel dafür, wie originell diese Küche denkt. Dass das auch noch so verführerisch schmeckt, versteht sich hier von selbst. (10/10)

Eine Tarte aux fleurs zündet zum Schluss noch mal ein optisches Feuerwerk. Auf einer Piniencreme wurden dünne Erdbeerscheiben drapiert, die mit Oxalis und gehackten Blüten bedeckt sind. Eine »Vinaigrette« von gerösteten Erdbeeren, Fenchel und konfierter Zitrone findet man drumherum. Neben den hocharomatischen Erdbeeren, die hier klar im Mittelpunkt stehen, begeistert bei dem Dessert ein spannender Temperaturverlauf von innen zur Mitte, wo das Dessert etwas kühler ist. Das Blumenmeer sorgt für leicht bittere, parfümartige Akzente. Großartig. (9/10)

Für den allerletzten Ausklang wird man in einen Nebenraum an die Bar gebeten. In dem mit maritimen Memorabilien dekorierten Zimmer gibt es noch eine Île flottante in Form einer Crème Anglaise mit einer Sauce aus drei Vanillesorten.

Das Vanillearoma ist blumig und intensiv; eine federleichte Meringue obenauf bringt knusprige Kontraste. Zu dem Dessert serviert man einen Grog mit Cidre-Infusion, Gewürzen und weißem Rum. Das Dessert schmeckt nach Karibik und The Secret of Monkey Island. (10/10)

Mit dem Einbruch der Nacht ist das Meer wieder da. In der tintenblauen Dunkelheit entzieht es sich schon wieder der Sichtbarkeit, und doch war es den ganzen Abend über präsent – in den Kräutern, in den Meerestieren und als stiller Gast am Tisch. In der Nacht lasse ich das Fenster offen. Von draußen weht das Rauschen herein. Ich bin mir sicher: Es ist das Meer.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Le Coquillage (→ Website)
Chef de Cuisine: Hugo Roellinger
Ort: Saint-Méloir-des-Ondes, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 30.07.2025
Guide Michelin (Frankreich 2025): ***
Meine Bewertung dieses Essens: 10 (Was bedeutet das?)
Dieser Bericht in den sozialen Netzen: Facebook, Instagram