Alléno Paris – die Zukunft der Tradition

Als eine von zwei großen kulinarischen Stationen während eines Kurztrips nach Paris besuche ich das Spitzenrestaurant von Yannick Alléno im Pavillon Ledoyen. In dem klassizistischen Gebäude an den Champs-Elysées betreibt der Starkoch gleich drei Restaurants: das legere Pavyllon mit einem Michelin-Stern, das Sushi-Restaurant L’Abysse mit zweien – und das Flaggschiff Alléno Paris, ausgezeichnet mit dreien. Besuchte man die drei Restaurants dauerhaft in Rotation würde einem aus kulinarischer Sicht nicht viel fehlen (auf dem Bankkonto sähe das schon anders aus).

Das Drei-Sterne-Restaurant zählt nach wie vor zu den bedeutendsten Institutionen der modernen französischen Haute Cuisine. Ich war schon mehrmals hier, und nur wenige Restaurants haben meine kulinarische Passion so nachhaltig geprägt. Mein letzter Besuch liegt allerdings Jahre zurück – höchste Zeit also, mich auf den aktuellen Stand der wegweisenden Küche Allénos zu bringen.

Dass bei Alléno in keinem Bereich Stillstand herrscht, bekommt man schon vor dem eigentlichen Besuch mit. Neuerdings werden alle Gäste, die hier reserviert haben, von der sogenannten Conciergerie de Table bereits im Voraus betreut. Einige Tage vor der Reservierung erhält man einen Anruf, in meinem Fall von einer sehr freundlichen Dame, die sich nach Erwartungen, kulinarischen Vorlieben, Weinpräferenzen, vergangenen Erlebnissen im Restaurant und vielem mehr in Form eines lockeren Gesprächs erkundigt. Ich frage mich, was passiert, wenn man sich hier Burger und Fritten wünscht – vermutlich hätte man auch daraus noch etwas gezaubert. Trotz aller scheinbaren Flexibilität wird man letztlich aber auch um eine Menü-Entscheidung gebeten.

Meine Wahl fällt auf das Menu »L’intégralité de notre Collection« für 415 €. Es existiert noch eine etwas reduziertere Version für 330 € und, laut Website, ein Menü mit einem »olfaktorischen Erlebnis« in Kooperation mit dem Parfümhersteller Xerjoff für 465 €, das mir jedoch am Telefon gar nicht angeboten wird. Ich bin mir sicher, dass Alléno auch aus dieser gewagt klingenden Idee etwas Spannendes macht, aber beim Essen bleibe ich lieber beim Essen.

Ebenfalls im Rahmen dieses Services erhält man, bei Bedarf, die Weinkarte, die, wie in Frankreich leider üblich, nicht online einsehbar ist. Daraus kommuniziere ich auch schon einige Funde ans Restaurant, ganz bequem per WhatsApp.

Diese charmante wie praktische Service-Idee hat mich jedenfalls beeindruckt; in dieser Form habe ich sie noch in keinem anderen Restaurant erlebt. Ob und wo man diesem Beispiel folgen wird, bleibt spannend – schließlich setzt es auch ein Publikum voraus, das Freude daran hat, seine kulinarischen Vorlieben und Erwartungen zu besprechen.

Die Räumlichkeiten präsentieren sich so elegant, wie ich sie in Erinnerung habe. Halbtransparente, von der Decke hängende Raumtrenner mit dezenten Pflanzenstickereien schaffen eine angenehme Balance zwischen Privatsphäre und Offenheit. Dazu kommen edle Details wie die hochwertige Tischdekoration und eine personalisierte, grafisch anspruchsvoll gestaltete Speisekarte – Elemente, die dem Abend von Beginn an einen geschmackvollen Rahmen verleihen.

Zum Apéro lasse ich mir ein Glas 2023er Savennières »Roche aux Moines« von der Domaine aux Moines empfehlen (36 €), ein blumiger, mineralisch-fruchtiger Begleiter zu den Einstimmungen, die gleich folgen. Gleichzeitig lasse ich schon einen Rotwein öffnen; hier habe ich mit einem 2022er Gevrey-Chambertin »Aux Corvées« von der Domaine Koji et Jae Hwa (350 €) eine der vermutlich spannendsten Positionen der umfangreichen Weinkarte entdeckt. Der Wein ist samtig, mit einem Aroma von roten Beeren, Blumen und Unterholz – ein großer Burgunder, der leider auf dem freien Markt, wie inzwischen vieles aus der Region, kaum zu finden ist. Der Sommelier freut sich spürbar über meine Entdeckung.

Dass nicht nur ich die Weinkarte in die Hände bekommen habe – wir sind zu zweit –, damit jeder darin blättern kann, ist nur ein weiteres von vielen aufmerksamen Details, die den Stil des Hauses hier auszeichnen.

Der erste Aufschlag aus Allénos Küche ist eine Variation um Pfifferlinge. Makellos präparierte, goldgelbe Stücke liegen auf einem spiegelglatten Pilz-Gelée und einer seidigen Pilz-Royale. Optisch ist das ebenso reizvoll wie der Geschmack: intensiv waldig, mit Anklängen von feuchtem Laub und Unterholz. Einige grobe Kristalle Mandelsalz schneiden mit hellen, mineralischen Akzenten wie Lichtstrahlen durch den Wald. Die kühle Temperatur steigert dabei die Klarheit der Aromen. Das ist aufwühlend bildgewaltig und äußerst genussvoll. (10/10)

Die zweite Kleinigkeit wirkt zunächst schlichter, offenbart aber raffinierte Tiefe: knusprige Champignon-Beignets mit milder Essigsauce und einem hausgemachten Satay-Gewürz von leuchtend roter Farbe. Die Kombination aus erdigen, saftigen Pilzen, sanfter Säure und exotischer Schärfe ist überraschend und harmonisch zugleich – und absolut hervorragend. Die Zubereitungsart als Beignet sollte man dabei nicht mit Tempura verwechseln: Statt hauchzarter Knusprigkeit weisen sie eine dichtere, etwas kaubedürftigere Textur auf – eine bewusst andere Herangehensweise, die den Pilzgeschmack auf eine eigene Weise konzentriert. Als ich scherzhaft erwähne, davon glatt noch eine Portion essen zu können, steht der Snack wenig später erneut auf dem Tisch. (8/10)

Der Teller, der dann folgt, ist ein spektakuläres Arrangement mit Dutzenden vegetarischen Komponenten, die sich um ein – auf den ersten Blick etwas rätselhaftes – Gelee in der Tellermitte gruppieren. Das entpuppt sich als eine Extraktion von Sellerie und Vin Jaune. Drumherum entfaltet sich ein Kaleidoskop aus Gemüsen, Kräutern und Früchten: Radieschen- und Trombolino-Zucchini-Plissés, halbgetrocknete Erdbeeren, Artischocke, Fenchel mit Wacholder, geräucherte Kartoffel, fermentierter Rotkohl, aber auch verspielte Kontraste wie Kressepüree, Rhabarber, Kirsche mit Piment d’Espelette oder Karotte mit Ingwer. Obwohl hier Abermilliarden von Geschmackskombinationen möglich sind, entsteht ein harmonisches Werk, das mit jeder meiner zufälligen Gabeln restlos begeistert. Ich schmecke Salz, Süße, Blumen, Wald, Sommer, Frühling, Bitterkeit, Flüsse, Wiesen, Sonne und Regen, Sushi, Fleisch und Gärten. Überwältigend! (10/10)

Auch das Brot auf dem Tisch ist exzellent: kleine, noch warme Brötchen, serviert mit feinster (und streichzarter) Butter, Salz und einem blumig-aromatischen Pfeffer.

Der nächste Gang ist an minimalistischer Ästhetik kaum zu übertreffen: In der Tellermitte liegt eine im eigenen Pflanzensaft gegarte Zucchiniblüte, die behutsam mit weißer Rübe, Kresse, Spinat und Akazienblüte gefüllt ist. Beim ersten Bissen fällt sofort die überraschende Hitze auf, die von einer feinen, charakterstarken Bitterkeit begleitet wird. Daneben liegen, als Fingersnack konzipiert, zwei rohe Stängel von weißer Rübe, umwickelt mit hauchdünnem Lardo di Colonnata und gewürzt mit schwarzem Sarawak-Pfeffer. Hier treffen der cremige, salzig Schmelz des Lardo und die knusprig-bitteren Stängel kurzweilig aufeinander. Das höchst originelle Gericht atmet Leichtigkeit, Sommer und Natürlichkeit – ein weiterer Geniestreich. (10/10)

Die eben erlebte Leichtigkeit wird im nächsten Gang wieder aufgegriffen. Serviert wird eine kleine Cassolette (ein Schälchen) mit wilden Pfifferlingen aus der Sologne, gebettet auf einem luftigen Schaum aus frischer Mandelmilch und Estragon-Chlorophyll. Am Gaumen wirkt das wie eine Wolke: warm und weich, während die aromatischen, in Butter gegarten Pilze und die knackigen Mandelstifte feine Kontraste setzen. Das alles schmeckt elegant nach Wald; der Estragon verleiht eine fast ätherische Frische. Überraschend originell – und erneut absolut herausragend. (10/10)

Dass man es bisher mit einer fast komplett pflanzlichen Küche zu tun hatte, fällt überhaupt erst auf, als nun Fisch serviert wird. Es gibt ein Filetstück vom Wolfsbarsch aus Noirmoutier, sanft in einem Sud von Meursault (!), Schalotten, Butter und Noilly Prat gegart. Begleitet wird der Fisch von Herzmuscheln, die über offenem Feuer gegart wurden, was man in Form eines elegant rauchigen Aromas wahrnehmen kann. Das maritime Duo liegt in einem grünen Kräuterjus, der mit Petersilienbutter aufmontiert wurde. Das Ergebnis ist ein Gericht von glasklarer Eleganz: der heiße Fisch von perfekter Saftigkeit, die Muscheln mit dem Hauch Rauch, der Jus tiefgründig, grün und dabei sommerlich frisch. Das ist ein Inbild maritimer französischer Klassik in zeitgemäßer Handschrift. (10/10)

Bis hierhin ist das Erlebnis ein kulinarischer Traum: die zeitlose Eleganz des Speisesaals, der freundliche und souveräne Service – und die grandiose Küche von Yannick Alléno, heute meisterhaft vertreten durch Chef de Cuisine Vincenzo Tirelli. All das verströmt eine Aura, wie man sie nur in Frankreich findet.

Daran ändert sich auch nichts. Der erste Hauptgang – ich probiere beide Optionen, die zur Verfügung standen – ist eine Poularde aus dem Cantal, die, ganz ihrem Aufzuchtkonzept folgend, in Milch pochiert wurde. Diese Milch ist mit Lindenblüten, verschiedenen Pilzen, Eisenkraut und Jasminblüten aromatisiert. Das Geflügel war während der Garung mit Reis und Foie-Gras-Fett gefüllt. Es wird nun als Suprême serviert, zusammen mit dem Garreis und dem duftenden Milchfond als Sauce, ergänzt durch gebratene Foie Gras und halbgetrockneten Mara-des-Bois-Erdbeeren.

Alles hieran ist bemerkenswert – allein die Zutat Reis, die in westlichen Spitzenküchen leider meist eine Randnotiz ist. Die Präsentation wirkt fast rustikal: Huhn, Reis und Sauce, recht üppig portioniert und wenig kunstvoll, aber appetitlich arrangiert. Gerade dadurch entsteht eine souveräne Schlichtheit, die unmittelbar Appetit macht. Zu Recht, denn am Gaumen zeigt sich das Huhn sehr saftig und aromatisch, die Erdbeeren steuern eine feine Säure bei, während die Foie Gras einen luxuriösen Schmelz einbringt. Auf hohem Niveau fehlt mir insgesamt jedoch ein wenig Salz; und so ganz wird das Gericht seinen rustikalen Eindruck nicht los. Es bleibt aber – vor allem qualitativ und geschmacklich – ein mehr als hervorragender und erfrischend origineller Gang. (8,5/10)

Ich bestelle zum nächsten Gericht noch ein Glas Rotwein offen, in diesem Fall einen 2022er Vin de France von der Domaine Prieuré-Roch aus dem Burgund, der mir (großzügig) per Coravin eingeschenkt wird (55 €).

Es folgt dann ein Klassiker des Hauses, dem ich hier allerdings zum ersten mal begegne: ein »Feuille à feuille« vom japanischen Waygu-Rind. Der Name beschreibt die abwechselnde Schichtung von hauchdünnen Streifen des Fleischs und Champignons – ein regelrechtes Millefeuille aus Fleisch und Pilz. Das Ensemble wurde gepresst und über Holzkohle knusprig geröstet und ist auf einem glänzenden Rinderjus mit Kapern und einer Sellerie-Extraktion angerichtet. Dazu gibt es ein geschmortes Kopfsalatherz, aromatisiert mit Roter Bete.

Am Gaumen wirkt das Gericht sehr natürlich, fast schon zurückgenommen. Fleisch, Pilze, Salat, Bete: all das schmeckt man ganz klar heraus, aber auch hier hätte etwas mehr Salz gutgetan, um die Aromen klarer zu akzentuieren. Durch die feine Schichtung geht zudem der charakteristisch buttrige Biss des Wagyu etwas verloren. Das ist technisch brillant, aber nicht ganz so überragend wie ich mir das Potenzial ausgemalt hatte. (8,5/10)

Bei einer Käseauswahl vom Wagen werde ich oft schwach, so auch heute. Ich notiere meine Auswahl nicht, aber alle Sorten sind hervorragend – perfekt gereift und bei idealer Temperatur serviert.

Besondere Freude bereitet mir auch der dazu gereichte, säuerlich angemachte Blattsalat – so schlicht und doch so schmackhaft erlebt man das nur in Frankreich.

Der erste Aufschlag der Patisserie kommt in Form eines Blanc manger aus frischen Mandeln, das mit einer leichten Erdbeermousse sowie einem Hauch Orangenblüte kombiniert ist. Der kühl gehaltene Teller duftet entsprechend floral-parfümiert. Marmorierungen aus einer konzentrierten Erdbeerreduktion und einem Honig von japanischem Staudenknöterich sind nicht nur dekorativ, sondern verleihen dem Dessert fruchtig-süße Akzente. Ergänzt wird alles durch sehr aromatische, in ihrem eigenen Saft marinierte Erdbeeren aus der Region Seine-et-Marne (von einem Monsieur Bourgeot), die mit etwas Chartreuse akzentuiert wurden. Es ist ein elegantes, luftiges und sehr ausbalanciertes Dessert, das vor allem durch die bemerkenswert intensiven Erdbeeren begeistert. (8,9/10)

Es folgt ein Dessert mit in Rosenmilch pochiertem Rhabarber, serviert auf knusprigen Gavottes mit einer cremigen Füllung aus Vanille, Schlagsahne und Crème d’Isigny. Die aufgeschäumte Kochmilch, der Aromen von Rose entströmen (man bekommt eine Ahnung, warum eine Kooperation mit einem Parfümhersteller zumindest spannend sein dürfte), dient als luftig-sanfte Begleitung. Die Komposition wirkt bewusst zurückhaltend: nicht etwa Süße, sondern die fruchtige Säure des Rhabarbers steht bei dem Dessert im Vordergrund. Das ist ein elegantes, schnörkelloses Dessert. (8,5/10)

Eines kommt aber noch: eine moderne Version des belgischen Dessert-Klassikers Merveilleux. Hier ist eine heterogen geformte Meringue-Hülle mit einer leichten Mousse aus geräucherter Kastanie, einer feinen Gelee-Schicht aus Champignons und Whiskey sowie kleinen Brocken aus in Schokolade getauchter Kakao-Mucilage gefüllt. Kleine Nocken Kaffeebuttercreme dekorieren die weiße Kreation, die nicht größer ist als ein Golfball. Am Gaumen wirkt das Dessert wolkig und cremig, stets spannungsvoll kontrastiert von knusprigen und bissfesten Strukturen. Ein äußerst eigenständiges Dessert – für mich das beste heute Abend. (9/10)

Wie Yannick Alléno, der derzeit neun Restaurants mit insgesamt 17 Michelin-Sternen führt, eine derartige Innovationskraft entfaltet – kulinarisch wie im Service –, ist bemerkenswert. So gut wie jeder Gang dieser kulinarischen Oper überraschte und fesselte, der Service agierte mit kosmopolitischer Souveränität und Freundlichkeit. Klischees findet man hier nicht, nur Eleganz, Leichtigkeit, Stil und Genuss – nichts weniger als die Zukunft der Tradition.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Alléno Paris (→ Website)
Chef de Cuisine: Vincenzo Tirelli
Ort: Paris, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 31.07.2025
Guide Michelin (Frankreich 2025): ***
Meine Bewertung dieses Essens: 9 (Was bedeutet das?)
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