Somni ‒ Traumlogik
Eine der derzeit schwierigsten Reservierungen weltweit heißt Somni. Meine Reservierungsbemühungen involvierten E-Mails, Telefonate und einen Brief, der vier Wochen unterwegs war, drei davon am Frankfurter Flughafen.
Das Restaurant in West Hollywood ist die zweite Inkarnation von Küchenchef Aitor Zabalas Somni-Konzept. Zabala stammt ursprünglich aus Barcelona und arbeitete unter anderem im legendären elBulli für Ferran Adrià. Über diesen lernt er den spanisch-amerikanischen Restaurantmogul José Andrés kennen, der ihn schließlich im Jahr 2010 in die USA holt ‒ zunächst nach Washington, D.C., dann nach Los Angeles, wo sich Zabala in das Klima, die Berge, den Pazifik und die herausragenden, ganzjährig verfügbaren Zutaten verliebt.
Die erste Version des Somni (Katalanisch für »Traum«), die Zabala zusammen mit Andrés führte, existierte pandemiebedingt kaum zwei Jahre, schaffte es in der Zeit aber schon zu zwei Michelin-Sternen.
Das neue Somni, das sich nicht weit vom ursprünglichen Standort befindet, bekam nach der Eröffnung Ende 2024 auf Anhieb drei Michelin-Sterne ‒ eine seltene Ehre.
An diesem lauen Oktoberabend stehen vor dem Restaurant um kurz vor halb acht, der einzigen Reservierungszeit, exakt vierzehn Gäste, die auf Einlass warten. Sie alle erwartet ein synchronisiertes gastronomisches Erlebnis in spektakulärem Ambiente.
Der Abend beginnt im stimmungsvoll beleuchteten Innenhof, der ganz in Weiß gehalten ist. Dekorative Drahtobjekte der italienischen Künstlerin Benedetta Mori ‒ hier in Form von Wolken und einer Giraffe ‒, Heizstrahler und warme Lichtquellen sorgen für ein magisches Ambiente.
Hier werden gleich die ersten Snacks des Menüs serviert, das mit 595 $ netto (ca. 550 € brutto) das teuerste im Großraum Los Angeles ist. Für die Reservierung werden 500 $ pro Person im Voraus angezahlt.
Ebenfalls wird man bei der Reservierung angehalten, sich für eine der ‒ sehr hochpreisigen (335 $–1100 $) ‒ Wein- oder Getränkebegleitungen zu entscheiden. Eine reguläre Weinkarte steht jedoch auch zur Verfügung, wie ich auf Rückfrage herausfinde ‒ meine klare Wahl. Mit einem Chardonnay »Hyde Vineyard« des Weinguts Kistler aus Carneros (300 $) begleite ich schließlich den Start ins Menü.
In kurzer Zeit ist auf dem Tisch eine Batterie an kleinen, kreativen Snacks aufgebaut.
Den Auftakt macht ein Getränk aus dem Reagenzglas mit Erbsen, Limette und Minze ‒ grün, herb und frisch. (7/10)
Es folgt eine federleichte, außen hauchzart knusprige Estragon-Baiserwolke mit frischer, saftiger Himbeere, Himbeercreme und Estragonbutter – zart, fruchtig, aromatisch, technisch perfekt. (9/10)
Danach probiere ich eine kleine, sardinenförmige Coca (katalanisches Fladenbrot) mit tiefwürzigem Tomaten-Sofrito und leicht geräucherter japanischer Sardine. Der auch optisch ansprechende Snack lebt von intensiven Kontrasten zwischen Meer und Umami und erinnert geschmacklich an eine Pissaladière. Das ist mehr als hervorragend, wobei ich mir einen weicheren, filigran-knusprigen Teig fast noch besser dazu vorstellen könnte. (8,5/10)
Weiter geht es mit einer hauchzarten »Parmesan-Feder«, einem fast schwerelosen Cracker aus Parmesan und Reis, der in der Mikrowelle aufgepufft wird, bis er luftig-knusprig ist. Bestrichen ist er mit einer cremigen Parmesan-Zitronen-Komposition und einem Hauch Kaffee. Der Parmesan steht geschmacklich klar im Vordergrund, die Zitrone bietet Hintergrund-Frische. Außergewöhnlich gut. (9/10)
Eine Version von mejillón tigre (Miesmuschel-Krokette) erscheint hier als tintenschwarze, knusprige Hülle mit einer cremigen Muschel-Zitronen-Yuzu-Béchamel, Korianderblüten und leichter Schärfe – maritim, zitrusfrisch, großartig. (9/10)
Als kleine Sensation folgt ein Mini-Chicken Bánh mì: krosse Hühnchenhaut umschließt Hühnerlebermousse, eingelegte Karotte und Daikon, etwas Koriander sowie ein Hauch Cayenne- und Serrano-Chili. Süße, Bitterkeit und Schärfe verbinden sich hier zu beeindruckender Präzision. Von Hühnchen- zu Gänsehaut. (10/10)
Dann, genauso ergreifend, ein filigraner Snack mit Matsutake-Pilz, Périgord-Trüffel und Sardelle – ein kurzer, äußerst intensiver Moment zwischen Meer und Wald. (10/10)
Den Abschluss bildet eine täuschend echt aussehende »gebrannte Mandel«: eine feine Zuckerhülle mit Zitrone, Mandel-Praliné und Zitronenconfit – süß, nussig, zitrisch, fast dessertartig. (8,9/10)
Nach dieser gelungenen Eröffnung werden alle Gäste ins Restaurant gebeten. Dort wird man auf einem der vierzehn Hocker platziert, die dicht an dicht nebeneinanderstehen ‒ unangenehm eng.
Der Tresen steht einer breiten Anrichte gegenüber, hinter der Küchenchef Zabala und ein mehrköpfiges Team bereits darauf warten, den ersten Gang zu servieren, den der Küchenchef vorher kurz seinem Publikum erläutert. Dieser choreografierte Ablauf hat etwas Bühnenhaftes.
Mit dem ersten Gericht präsentiert Zabala weiter sein technisches Können: eine »Pizza Margherita« wurde neu gedacht als gefriergetrocknete Tomaten-Baiserbasis, darauf Burratacreme, dünne Scheiben Ibérico-Pancetta, Basilikum und etwas Kaviar. Durch das Trüffel-Add-on, für das ich mich entschieden habe (zzgl. vergleichsweise bescheidener 95 $ für mehrere Gerichte) wird die »Pizza« noch mit weißem Alba-Trüffel veredelt. Am Gaumen treten die leicht klebrige Textur und intensives Tomaten-Umami in den Vordergrund; Trüffel und Kaviar dagegen bleiben verhalten. Der Snack ist ultraleicht und geschmacklich stark verdichtet ‒ ein reizvoller Kontrast auf hohem Niveau. (8/10)
Der zweite Gang vereint Gazpacho und ajo blanco in Form von in Sardinen-Garum komprimierten Tomaten, dazu Salzcreme, Gurke und gefrorene Mandelmilchsplitter. Am Tisch wird noch ein geklärter Tomatenfond angegossen, der unter anderem mit Zitronengras aromatisiert wurde und zitrusfrisch duftet. Das Gericht ist kühl, umamitief und durch eine Aalcreme leicht üppig und angenehm maritim. Eine kleine Sensation. (10/10)
Es folgt kalifornischer Taschenkrebs mit Fingerlimette, vietnamesischer Pampelmuse und Ingweröl, kombiniert mit Kohlrabi, Basilikum, Koriander und Austernblatt.
Die fruchtig-maritime Kombination wird mit einem Schaum von Krebskopf, Kokos und Ras el-Hanout getoppt. Das Gericht zeichnet sich durch eine beeindruckende Balance aus: Der saftige Krebs, die leicht exotische Sauce und feine Frucht- und Zitrusnoten gelangen am Gaumen besonders harmonisch zusammen und werden von einer feinen Schärfe begleitet. Auch das ist grandios. (10/10)
Weiter geht’s ‒ in perfekter Choreografie, und jedes Gericht hübscher als das davor. Jetzt steht eine Kreation mit Blauflossen-Thun auf dem Tisch, als cremiges Tatar, kombiniert mit rauchigem Knochenmark, Blumenkohlcreme, sehr viel Kaviar und einer feinen Fichtensprossen-Gelatinenschicht. Begleitet wird das Ganze von einer kräftigen, escabeche-artigen Sauce aus Huhn, Kräutern und Sherry-Essig. Die Kreation ist üppig, umami, cremig und salzig – und es ist genau diese Intensität, von der das Gericht lebt. Die ätherischen Aromen der Fichtensprossen setzen einen feinen, harzigen Akzent, der die Üppigkeit elegant aufbricht. Sehr stark – bis auf einen separat servierten Blumenkohlcracker, der eher ablenkt als ergänzt. (8,9/10)
Was wie ein Blumenarrangement aussieht, entpuppt sich beim nächsten Gang als ein einzelner, leichter Fingersnack. Es gibt ein als Tempura aufgepufftes Shiso-Blatt, getoppt mit einem Rindertatar aus dry-aged Tenderloin, gewürzt mit über zwanzig Komponenten, die das Umami des Fleischs elegant herausarbeiten. Frische Borretschblüten setzen dazu einen aromatischen Kontrast. Das schmeckt hervorragend: die aromatische Würze vom Shisoblatt ergänzt das würzige Tatar ideal; die Knusprigkeit dazu macht Spaß. Meisterhaft. (8,9/10)
So hoch das Niveau der Speisen bisher ist, wirkt die stark inszenierte Präsentation des Essens etwas befremdlich. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass alle Beteiligten auffallend ernst bleiben, was die ohnehin schon strenge Choreografie noch ungewöhnlicher erscheinen lässt. Zusammen mit dem Economy-Class-Sitzabstand ist das nicht die entspannteste Angelegenheit.
Wie alle Gerichte bisher, ist auch das folgende eine Augenweide.
Auf dem Grund der blumenförmigen Schale, in der das Gericht serviert ist, liegt eine mit Safran, Minze und Zitrone aromatisierte Miesmuschel-Creme. Die fast roh belassenen »Lippen« der Muschel, die im eigenen Fond glasiert wurden und von einer dünnen Gelatineschicht überzogen sind, sind das, was man als erstes von dem Gericht zu sehen bekommt. Rosmarinblüten, in Butter gebräunte Milchbrotwürfel und etwas Yuzu-Abrieb verzieren die Kreation.
Viel Zeit, dieses Kunstwerk zu bewundern, bleibt einem nicht, da nun zwei Saucen angegossen werden: eine Muschelsauce mit Safran, Estragon, Yuzu und Manzanilla sowie eine luftige Emulsion aus Muschelschalen-Dashi.
Das nur leicht temperierte Gericht verblüfft mit einer intensiven, metallischen Safran-Aromatik, die fast jodig wirkt und damit perfekt zu den Meeresaromen der Muschel passt. Lediglich die etwas sehr schaumigen Saucen verhindern, dass ich ganz darin versinken möchte. In jedem Fall aber großartig. (9/10)
Der nächste Gang zeigt sich etwas naturbelassener als die bisherigen Gerichte, was guttut. Es gibt spanischen Steinbutt in zwei Sequenzen. Die erste präsentiert ein sanft in Salz und Butterdampf gegartes, längliches Filetstück des Fischs ‒ die schillernde Farbe weist auf Reifung hin. Dazu kommen frische, in Trüffelbutter geschwenkte Erbsen mit Tintenfischkaviar und eine Consommé aus den gerösteten Gräten. Ebenfalls auf dem Teller, versteckt unter einigen Kräutern, findet sich eine Petersilien- und eine Blutwurstcreme.
Der Fisch ist hervorragend, mit fein-bissfester Konsistenz, die Süße der Erbsen harmoniert exzellent ‒ ich könnte mir lediglich ein paar mehr Grad Temperatur vorstellen. (8,9/10)
Richtig wach rüttelt mich dann Teil zwei des Fischs. Hier stehen die Rippenstücke im Mittelpunkt: sorgfältig gesäubert, mit einem kleinen »Griff« aus den Knochen und dem daran verbliebenen Fleisch zu einer glasierten Rippe geformt. Der Steinbutt wurde kräftig angebraten, mit hausgemachter Teriyaki-Sauce bestrichen, auf dem Grill leicht geräuchert und mit Limettenschale, Salz, Pfeffer und Shiso-Blüten vollendet. Das Stück hat eine gelatineartige, reichhaltige Konsistenz, ist kurzweilig klebrig und geschmacklich voll japanischer Süße, Rauch und Umami – ein intensiver Happen. (10/10)
Weiter geht es mit einer herzhaften Ensaimada, einer balearischen Spezialität, hier gefüllt mit Zwiebel und frischen Steinpilzen und mit gehobeltem Trüffel aromatisiert.
Dazu wird eine Sauerrahm-Emulsion gereicht, die man wie Butter auf das weiche Gebäck streicht. Der dem Geschmack eines Zwiebelkuchens ähnelnde Snack ist erdig und kräftig, aber nach meinem Empfinden eine Spur zu mächtig. (7/10)
Den Abschluss der herzhaften Speisen bildet ein Teller mit Secreto ibérico, das rosa gebraten wurde. Das gehaltvolle, glänzende Stück Schweinefleisch begleiten diverse Mitspieler: süßliches Zwiebelpüree, das die Brücke zum vorherigen Gang schlägt, in bohnenform gelierte Ibérico-Consommé, Artischocke mit Schinken, Joghurt-Milch und Blüten. Zwei Saucen – eine Reduktion aus Ibérico-Rippe mit Trüffeln und eine Steinpilzcreme – sorgen für Tiefe und Wärme.
Ebenfalls auf dem Teller findet man einen Schaum aus Roncal-Käse, der intensiv salzig und nussig schmeckt. Das Gericht spielt mit Intensität in unterschiedlichen Facetten: Fett, Salz, Schmelz und Nussigkeit verbinden sich zu einem dichten Gesamtbild – hervorragend, aber bewusst auch etwas fordernd. (8/10)
Der Übergang ins Süße erfolgt mit einem kleinen Käsegang: cremiger Brillat-Savarin trifft auf Haselnusspraliné, geröstete Haselnüsse und Apfel in zwei Texturen – als Püree mit Vanille und als komprimierte Stücke. Ein kleiner Keks in Kuhoptik setzt einen spielerischen Akzent. Käse und Apfel verbinden sich hier klassisch und äußerst stimmig. (8/10)
Es geht weiter mit einer Interpretation von Pfirsich Melba. Hier bildet ein Amaretto-Vanille-Semifreddo die Basis, darauf gibt es Pfirsich in drei Varianten: confiert, als Püree und als leichte Himbeer-Geleeschicht. Miso-Mandel-Crumble sorgt für Wärme und Knusperspaß. Gekrönt ist alles mit einem samtigen Himbeer-Basilikum-Eis, das Frische und Kräuterakzente einbringt. Insgesamt ist das »weich«, cremig, fruchtig und aromatisch präzise – ein perfektes Dessert. (9/10)
Der Abschluss des Menüs schließt den Kreis zum Beginn mit einem Ensemble von verspielten süßen Kleinigkeiten: Es gibt einen kleinen Donut mit Dulce-de-Leche-Mousse, Milchschokolade und Streuseln (7/10); ein Mochi mit einer Creme von spanischem Milchreis (8,5/10); eine »Schokoladenwolke« in dünner weißer Schokolade (7,5/10); verschiedene Gelee-Beeren ‒ Brombeere, Cola und Erdbeere mit Sahne ‒ (8,5/10) sowie, serviert in einem kleinen Schälchen, komprimierte Piel-de-Sapo-Melone mit Ingwer und Minze in einem zitrusfrischen Sud ‒ wunderbar (9/10).
Nach vier Stunden endet das Spektakel. Technische Präzision, bemerkenswert komplexe ‒ und dabei doch zugängliche ‒ Gerichte bieten dem Gast zweifellos eines der außergewöhnlichsten Restauranterlebnisse unserer Zeit. Mitunter leidet der Abend jedoch etwas unter der strengen Inszenierung, einer unbequemen Sitzsituation und einem, zumindest für mich, fehlenden kulinarischen Narrativ. Wenn man schon eine Bühne betritt, dann kann man auch eine Geschichte erzählen. Aber so ist das mit Träumen: Sie folgen ihrer eigenen Logik.