100/200 Kitchen – »Die Saison«: vegetarisch für Fortgeschrittene

Für allgemeinere Beschreibungen des 100/200 Kitchen, dessen Entstehung und Entwicklung ich schon seit dem Beginn im Jahr 2017 verfolge, verweise ich auf meine anderen Berichte. An dieser Stelle muss die Erinnerung daran genügen, dass das von Thomas Imbusch geführte Restaurant mit charaktervollem Industrie-Chic-Ambiente und Molteni-Herd in Hamburg-Rothenburgsort von Anfang an eine der spannendsten und eigenständigsten Küchen der Stadt bietet. Seit März dieses Jahres prangen zwei Sterne des Guide Michelin an der Backsteinfassade.

Im 100/200 gibt es saisonale Carte-Blanche-Menüs für derzeit 200 €. Sie sind den unterschiedlichen Jahreszeiten gewidmet und thematisieren bspw. Fisch (»Wasser & Salz«) oder Wild (»Feuer & Rauch«). Das aktuelle Menü ist rein vegetarisch und heißt, etwas unspezifisch, »Die Saison«. Darüber, dass ein Spitzenkoch – und der ist Imbusch längst – sich einem Mahl ohne Fisch und Fleisch zuwendet, zumindest hin und wieder, wird keinen versierten Esser verwundern. (Erst kürzlich erinnerte das Eleven Madison Park in New York daran, dass man selbst mit einer rein pflanzlichen Küche drei Michelin-Sterne halten kann.)

Erstaunlich ist eher, mit wie viel Souveränität und Innovationskraft das in einem Restaurant geschieht, in dem Rinderhälften in verglasten Kühlschränken hängen – auch während der »Saison«. Den stereotypen Vegetarier soll das also nicht unbedingt ansprechen. In fleischigeren Zeiten schreibt man sich hier auf die Fahnen, so ziemlich alles von einem Tier zu verarbeiten. Man nennt das nose to tail, könnte hier aber auch »alles oder nichts« dazu sagen, ein Motto, das schon immer zu Thomas Imbuschs Küche gepasst hat.

Man beginnt den Abend im 100/200 üblicherweise mit einer Präsentation einiger der Hauptzutaten des aktuellen Menüs. Diese Aufgabe übernimmt oft eine Arbeitskraft, die sich hier in der Ausbildung befindet, ein weiterer Arm von Imbuschs gastronomischem Konzept.

Zu der heutigen Demonstration serviert man hier am Tresen den ersten Snack, eine hauchdünne Tartelette mit gegrillter Wassermelone, Chili und Kombu. Die Petitesse beeindruckt mit einem eindringlich »tiefen« Umami-Geschmack und an Paprika erinnernde Aromen, ist dabei federleicht und lässt sofort ein weiteres Exemplar vermissen (8,5/10). Ein Tomatentee mit Grüner-Tee-Öl spricht ebenfalls umami, aber mit einem leichteren, floralen Dialekt (8/10). Das ist ein ausdrucksstarker Auftakt, zu dem das erste Glas Champagner (André Heucq »Héritage« 2013, 22 €) schnell geleert ist.

Wie üblich stimmt man dann wenig später am Platz das eigentliche Menü mit fünf Kleinigkeiten ein, die den Gaumen über die fünf Grundgeschmacksrichtungen sozusagen kalibrieren. Das funktioniert immer überraschend gut, daher wäre insoweit nur zu bedauern, dass die Kleinigkeiten schon seit über einem Jahr nur wenig angepasst wurden, wenn doch eigentlich alles danach schrie, auch diese auf das Thema des jeweiligen Menüs abzustimmen.

Im heutigen Fall sind sie es zufälligerweise sogar, da die Snacks vegetarisch sind. Spitzkohl mit Olive steht für salzig, Sellerie und Rhabarber für sauer, Rettich und Kakao für bitter, Zwiebel und Süßdoldenwurzel für süß, eine Brühe mit Deichkäse und Sellerie-Öl für umami (und fettig). Der Einstieg ist von üblich hoher Güte, geschmacklich naturgemäß so divers wie möglich und im bestgemeinten Sinn »interessant«, da man das am Tisch immer als kleines gustatorisches Experiment betrachten und besprechen kann. (7,5/10)

Und dann geht es auch schon los mit der »Saison«, und der (zweiteilige) Auftakt wirkt so, als fiele man rücklings und in Zeitlupe auf eine sommerliche Blumenwiese. Da ist zunächst ein luftiger Rote-Bete-Baiser mit saftiger, gekochter Roter Bete und geschmacklich dichtem Tomaten-Concassée, stilvoll parfümiert von einem naturbelassenen und einem kandierten Rosenblatt.

Wendet man sich schließlich dem Hauptteller zu, werden die floralen Aromen, über die man noch sinniert, mannigfaltig erweitert, in diesem Fall durch ein dezentes, aber präsentes Veilchenaroma in einem kühlen, frischen Gurkensud, sowie durch weitere Blütenblätter. Ein Dickmilcheis steht im Mittelpunkt dieses Tellers und »entzerrt« den blumigen Auftakt mit einer klaren Frische und etwas Schmelz. Dieser Auftakt ist wahrhaftig großartig. (9/10)

Es kann einem an dieser Stelle auffallen, hier bei den Baisers, dass Imbusch seine Kreationen handwerklich nie so penibel finalisiert, wie manche es auf diesem Niveau möglicherweise erwarten. Das ist allerdings kein relevantes Manko, da geschmacklich und kompositorisch unerheblich, sondern Imbuschs vielleicht letzte Rebellion gegen Konventionen. Davon darf man sich hier keinesfalls irritieren lassen.

Es geht weiter mit einem Gericht um Grillgemüse. Mit Zucchini, Paprika und Aubergine liegen hier scheinbar triviale Zutaten auf dem Teller, die man sonst eher einer bodenständigeren, mediterranen Küche zuordnen würde, wie Ratatouille, Parmigiana oder als gegrillte Fleischbeilage. Auf diesem Teller werden die Zutaten aus ihrem alltäglichen Kontext entführt, indem sie von einem bei 120 Grad langsam frittierten Kräuterbeet umgeben sind, das am Gaumen knusprig und filigran zerfällt. Als Bindeglied, sowohl aromatisch als auch texturell, dient dann eine behutsam dosierte, herzhafte Auberginencreme, während eine Vinaigrette mit gegrillter Olive, Salbei und Thymian noch einmal nachhaltig daran erinnern will, dass die süffige, sommerliche Leichtigkeit rund um Grillgeschmack, Olivenöl und appetitanregende Säure – und sogar eine von irgendwoher kommende Schärfe – problemlos auf das Niveau einer Spitzenküche erhoben werden kann. Zu mediterranen Bildern passt ein Kristallbrot »cacio e pepe«, also mit Käse und Pfeffer, etwas klebrig am Gaumen und den sommerlichen Grillabend im Kopf damit perfekt abrundend. (8,5/10)

Ein 2016er Volnay 1er Cru Taillepieds von der Domaine Nicolas Rossignol (€ 240) aus der kompakten Weinkarte könnte mit seinen rauchigen Aromen nicht besser dazu passen.

Der nächste Akt thematisiert die eigenwillig klingende Kombination von Tomate, Kirsche und Marzipan. Es gibt auf einem Teller schlicht angerichtete Tomatenscheiben verschiedener Sorten, manche eingelegt, manche ganz natürlich. Die saftigen, aromatischen Tomaten sind mit einem pikanten Schnittlauchöl angemacht, während ein behutsam dosiertes Püree aus Kirsche und gegrillter Alge eine völlig unerwartete maritime Note und ein Lagerfeueraroma beisteuert – eine charmante Parallele zum vorherigen Gang.

Wechselt man zum Schälchen daneben, werden die vorherigen Empfindungen eindrucksvoll erweitert. Ein Sud aus fermentierten Kirschen, Molke, mit Rosenöl aromatisiertem Marzipan und Olivenöl ergibt eine fruchtig-herbe, florale Bühne für ein kräutersüßes Eis aus Bronzefenchel und Deichkäseschaum. Am Gaumen ist die Kirsche zurückhaltend präsent, eine pfeffrige Note belebt die geschmacklich fesselnde Komposition. Jegliche Skepsis, dass eine Speise mit Kirsche und Marzipan in Richtung eines Desserts abdriften könnte, verflüchtigen sich bei diesem Gang in einem vielfältigen Geschmacksbild, das von Säure, Frucht und Rauch lebt. Irre gut. (8,5/10)

Dann geht es um Bohnen, profane, grüne Schnittbohnen. Sie sind unterschiedlich verarbeitet: fermentiert, eingelegt, naturbelassen und in mundgerechten Stücken in einem flüssig-schaumigen Potpourri von Erbsenschaum, verbrannter Bohnencreme, Pistazienpüree und Bohnendashi angerichtet. Das tiefe Schälchen zum Auslöffeln eignet sich ideal dafür, die rauchigen, »bohnigen« Aromen zu bündeln. Hitze, Rauch, Biss und eine ergreifend norddeutsche Note, die an den Geruch von Gaststätten mit Bundeskegelbahn erinnern, bieten Gänsehaut pur.

Dazu gibt es noch einen kleinen Happen mit »übersäuertem«, zwanzig Tage gegangenem Brot, kombiniert mit Senf, Rettich, Bärlauch und Essig – säuerlich appetitlich und so nach Hamburg passend wie ein herzhafter nächtlicher Snack nach einer durchzechten Nacht auf dem Kiez (woher auch immer diese lang zurückliegenden Erinnerungen auch kommen mögen). Dieser Gang vereint Wohlgeschmack zum Augenschließen, eine perfekte Portionierung, wohltuende Hitze, Heimatcharakter auf Spitzenniveau und Bilder im Kopf. Für so etwas muss man sonst weit reisen. (9/10)

Es geht weiter mit einem Thema um Artischocke. Auf dem Hauptteller findet man zunächst ein gegrilltes, tourniertes Artischockenherz – fleischig und bissfest – mit einer süffig-säuerlichen Artischockenmayonnaise und etwas knusprig frittiertem Buchweizen. Das Ganze tarnt sich farblich perfekt in einer Pilzvinaigrette, die intensiv nach Wald duftet. Eine mit verschiedenen Pilzen gefüllte Tartelette erinnert mit ihrem Mürbeteig ein wenig an Pasteten und ähnliche klassisch französische Zubereitungen. Separat gibt es noch einen Fingersnack bestehend aus einer in einem (nicht essbaren) Artischockenblatt angerichteten gerösteten Zwiebel auf einer Creme von gerösteten Mandeln.

Am Gaumen ergibt sich hier insgesamt ein sehr harmonisches, regelrecht mediterranes, Geschmacksbild um die »waldigen«, »erdigen« Protagonisten Pilz und Artischocke. Wer, wie ich, die appetitanregende Säure von Vinaigrettes schätzt, hat hieran große Freude. Gleichwohl könnten die Ideen dieses Gangs durch etwas Mäßigung und justierten Proportionen noch präziser zur Geltung gelangen. Der Vorteil einer vegetarischen Küche macht sich jedoch auch bei etwas voluminöseren Gerichten bemerkbar: überfüllt ist man nie. (7/10)

Das Signature-Toast mit Deichkäse und Champignons – ätherisch, erdig, cremig, knusprig und mundfüllend – ist in seiner aktuellen Version nach wie vor hervorragend und eine Art norddeutsche Version von Björn Frantzéns Trüffeltoast. (7,5/10).

Die erste Süßspeise rankt dann um ein Eis aus Sauerampfer, das in einem Sud aus fermentierten Beeren und einem Kräuteröl angerichtet ist. Dieser Teller geht ein bisschen in die Richtung eines Desserts, das man in einem kreativen vegetarischen Menü »befürchten« könnte. Wir reden hier keineswegs von irgendetwas Mangelhaftem, aber der Fokus auf ölige Textur und bitteren Geschmack, wenn auch ergänzt um feine Fruchtsüße, trifft nicht so recht in mein Dessert-Herz. Objektiv sehr gut ist das trotzdem. Ein dazu serviertes Küchlein kehrt diese Empfindung auch sofort ins Gegenteil um: Eine kleine Tarte (leider nur mit »angebissenem« Foto) mit einer Ganache aus Kaffee, Koriander und Lavendel sowie Rumkaramell ist himmlisch. (Im Schnitt 7,5/10)

Eine zum Schluss servierte Brioche – warm, buttrig, fluffig – aus der hauseigenen Patisserie mit üppiger Vanille-Chantilly ist auch jedes Mal wieder völlig zu Recht einen eigenen Gang wert und rechtfertigt ausschließlich eine hervorragende Bewertung. (8/10)

Man kann in Hamburg derzeit nicht besser essen. Man kann anders hervorragend essen, aber Thomas Imbuschs Küche ist auf diesem Niveau die einzige, die wahrhaftig kreativ ist, die Neues wagt, Grenzen auslotet und sich gegen Konventionen stemmt. Wenn diese Innovationskraft dann auch kulinarisch so schlüssig und wohlschmeckend auf die Teller gebracht wird wie heute Abend, wird es hier ganz schnell ganz unheimlich – unheimlich gut.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: 100/200 Kitchen (→ Website)
Chef de Cuisine: Thomas Imbusch
Ort: Hamburg, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 15.10.2022
Guide Michelin (Deutschland 2022): **
Meine Bewertung dieses Essens: 8 (Was bedeutet das?)
Diskussion bei Facebook: hier klicken