Haerlin – Schnappschuss

Mein Berichte-zu-Besuche-Verhältnis über Hamburgs Restaurant-Juwel an der Binnenalster ist gering, was man mir nachsehen mag. Denn so gerne ich auch Wiederholungsgast im Haerlin bin, möchte ich Repetition hier im Blog vermeiden. Die zwei Michelin-Sterne, der elegante, prachtvolle Speisesaal mit Alsterblick, der hanseatisch dezente, professionelle Service und – nach der Umorientierung des Jacobs Restaurant – das einzig wahrhaftige, klassische Fine Dining-Restaurant der Stadt: All dies und mehr wird hier jahrein, jahraus auf hohem Niveau bewahrt und sorgsam kultiviert. Moden macht man hier nicht mit. Casual können sich Andere auf die Fahnen schreiben, hier im Haerlin bleibt es luxuriös.

Im Laufe der Jahre habe ich mir das Restaurant im Fairmont Hotel Vier Jahreszeiten zu einem Genussort geformt, den ich genauso zu etwas (sehr gutem) Käse und (noch besserem) Wein besuche wie zu Christoph Rüffers Degustationsmenü. Es läuft am Ende sowieso immer auf Letzteres hinaus, aber der Gedanke zählt. Im Herbst vergangenen Jahres zauberte Rüffer sogar nach Absprache italienische Küche und französische Bistro-Klassiker für mich aus dem Hut und ließ keine Zweifel aufkommen, wer im Handumdrehen die beste Osteria Hamburgs betreiben würde. Wer kann, der kann eben.

Erstaunlich schnell hat sich auch herumgesprochen, dass ich den hohen Sommelier-Tisch den regulären Tischen hier vorziehe. Manche Gäste wollen inzwischen »da sitzen, wo Herr Walther sitzt«, und spätestens jetzt kann es ja jeder nachmachen. Aber beschweren Sie sich hinterher bitte nicht darüber, dass es dort dann etwas casual zugeht, ganz ohne Tischtuch.

Mein aktueller Bericht soll nicht die knapp zwanzig Besuche seit meinem letzten Bericht im Haerlin resümieren. Es ist ein aktueller kulinarischer Schnappschuss.

Das Menü (sechs Gänge zu 215 €) beginnt seit gut einem Jahr mit nur minimal angepassten Amuse-Bouches. Ein Tatar vom Thunfischbauch mit Rettich und Seegrasvinaigrette bietet hohe Produktqualität beim Thunfisch mit angenehmem Schmelz und dazu ein fein austariertes Säurespiel durch die Vinaigrette, die eigentlich gar nicht so geliert sein müsste. Ein feines Korianderaroma rahmt bei dieser hervorragenden Kreation aromatisch alles ein, die sogar noch besser ist als heute, wenn sie einen Hauch kühler serviert wird. (8/10)

Ein Rosenbaiser mit einer feinen Gänselebercreme und Altländer Kirsche ist auch immer wieder eine Freude, mit federleichtem Baiser, betörend floralen Aromen und einem fruchtigen Akzent, der durch die üppige Herzhaftigkeit der Leber nie an ein Dessert erinnert. Hervorragend wie eh und je. (8,5/10)

So exzellent diese zwei Kreationen sind, würde ich mich hier über Abwechslung erfreuen. Die kommt heute Abend beim dritten Amuse, ein millimeterdickes Teigröllchen mit Nordseekrabben, Meerrettichschaum und »Zitrusaromen«. Mit Letzteren treibt man es hier manchmal ein wenig zu bunt, sie verstecken sich als Kalamansi-, Yuzu-, Bergamotte- und Co.-Aroma in Geltupfen, Saucen, Schäumchen und Pralinen, wobei man es wohl nur selten mit den authentischen Früchten zu tun hat – gesehen habe ich zumindest noch keine. Diesem Röllchen bringt das Zitrusaroma entsprechende Frische, ansonsten lassen viel Schaum und wenig Krabben darauf hoffen, dass dieser Snack sich nicht ganz so lange in den Charts halten wird (7/10).

Eine weitere Einstimmung folgt mit Tomaten vom Kleverhof in Schleswig-Holstein. Verschiedene, aromatische Sorten sind hier um ein Limonencousous angerichtet, das eine präzise abgeschmeckte und einen Hauch pikante orientalische Geschmackswelt schafft. Zu allem gibt es eine »Gazpacho-Creme« – eher ein Gelee – und ein Basilikumsorbet, beides Komponenten, deren Verarbeitung dem Gericht etwas Authentizität nimmt. Dennoch ein tadelloser Zweiklang Tomate/Basilikum. (7/10)

Was den Weinservice betrifft, bin ich mit Sommelier Christoph Scholz immer im kurzweiligen Austausch. Der souveräne Weinservice und die exzellente Weinauswahl sind für mich genauso entscheidend, hier einzukehren, wie die Küche. Hier am Hochtisch zu sitzen, ist in dieser Hinsicht ein wenig masochistisch, weil einen stets einige der großartigsten Weine der Welt anlächeln: Romanée-Conti, Armand Rousseau, Mouton-Rothschild, Roulot, d’Auvenay usw. Meine im Burgund gewurzelten Präferenzen sind allseits bekannt, Scholz hat immer schon einige Ideen ausgetüftelt. Selbst wenn ich, wie heute, unerwarteterweise mal davon abweichen möchte, sind immer hervorragende Optionen zur Stelle. Heute ist bei meiner Ankunft am Platz schon mal ein 2018er Saint-Aubin 1er Cru »Les Murgers des Dents de Chiens« von der Domaine Hubery Lamy offen, auf der roten Seite wandert schließlich mit einem 2013er Barolo »La Serra« von Roberto Voerzio (450 €) eine hervorragende Empfehlung in die Karaffe. Es macht Spaß, hier in höhere Regale zu greifen.

Den offiziellen Auftakt ins Menü macht das Filet einer gebeizten bretonischen Makrele, das in einer Sauerampfer-Bergamotte-Vinaigrette angerichtet ist. Die kühle, aromatisch präzise Sauce folgt der Leidenschaft der Küche für »grüne« Säure und Zitrusaromen und passt gut zum eigentlichen Sekundäraroma Gurke. Diese findet man sowohl in kleinen Stücken auf dem Fisch sowie als Eis vor, was in Anbetracht des Basilikumsorbets von vorhin etwas repetitiv wirkt. Nun ergeben Makrele, Gurke und die Vinaigrette ein schlüssiges Geschmacksbild – frisch, kühl und schlank –, ein reduzierter Sojajus erweitert das Ganze punktuell noch um einen flüchtigen, charmanten Blick in Richtung Fernost. Zu diesen Ideen dürfte die Küche ruhig noch souveräner stehen; das gute Dutzend weiterer Komponenten, unter anderem ein geschmacklich deutlich zu intensiver Getreidecracker, fügt der Kreation nichts Wesentliches hinzu. Dass es von Vorteil sein soll, immer wieder von hier und da auf dem Teller verschiedene »Geschmacksakkorde« zusammenzustellen und dabei diverse Zutaten in unterschiedlichen Zubereitungen mehr im Vordergrund stehen als die Güte der Zutaten an sich, bleibt eines der hartnäckigsten Missverständnisse der deutschen Spitzengastronomie. Dies repräsentiert die Küche Rüffers in Summe zwar mitnichten, dennoch lässt man sich bei einem Gericht wie diesem dazu verleiten, einen großen, flachen Teller möglichst breit zu besetzen. Wenn man bei diesem Gericht – als Gast – alles optimal dosiert, bleibt am Ende ein mehr als sehr guter Gang in Erinnerung, aber einige Reste auf dem Teller, z. B. vom Eis. (7,5/10)

Es folgt eine Kreation um Carabinero, die auf insgesamt drei Tellern serviert wird – eine kurzweilige Präsentationsform, der man hier seltener begegnet. Auf einem Teller findet man das qualitativ einwandfreie Krustentier mundgerechnet portioniert in einem hinreißend guten, buttrig aufgeschäumten Bouillabaissejus (der sogar noch eine Nuance besser zu einem Kaisergranat passen würde). Warum man dann abermals die Quetschflasche bemühen muss, um unbedingt noch einen grünen Cremetupfen zu platzieren, erschließt sich mir nicht. Auch bei dem Schälchen Gemüsesalat und Kräutern ist eine aufgetupfte Rouille-Creme die optisch prominenteste Komponente. So gut auch dieses Schälchen ist – hier besonders charmant in Kombination mit dem belebenden Aroma von Dillblüte –, kann ich diesen Cremes einfach nichts mehr abgewinnen, und ich wünsche mir für den Rest des Menüs insgeheim eine Abwesenheit davon. Der dritte Teller präsentiert ein Tatar der Garnele, das die typisch cremige Textur aufweist und mit einem Kräuteröl, ich vermute, mit Dill, aromatisiert ist. Das ist in dieser Trilogie schlüssig, wenngleich nicht kühl genug. Das Können hier ist offenkundig, es kommt nur gerade nicht so ganz zusammen. (7/10)

Bei der Goldbrasse von der Île de Noirmoutier zeigt sich die Küche hier von ihrer besten Seite: kompakt in Tellermitte, mit makellosem Hauptdarsteller – saftig, heiß, zart und mit Butter arosiert –, dazu eine mit größter Saucen-Passion zubereitete, wundervolle Safran-Muschelnage mit Muschel- und Paprika-Einlage sowie eine mit einer herzhaften Creme gefüllten Schmorzwiebel. Das ist ohne Umschweife hervorragend. (8/10)

Es geht weiter mit Perlhuhn des angesehenen Zulieferers Odefey & Töchter, dessen Geflügel ich zum erste Mal bewusst vor vielen Jahren im damaligen Madame X in bestem Licht kennen gelernt habe. Das Huhn dort hatte eine verführerische, hauchdünne Kruste, war heiß und saftig, aber nicht zu fettig, dennoch generös und eine Referenz für jeden, den ich damit konfrontiert habe. Dass es bei Rüffer nicht so knusprig-frivol zugehen muss wie damals im Off Club, ist offenkundig – aber natürlich auch kein Gesetz. Insoweit ist dieses schmale Stück aus der Odefey’schen Perlhuhnbrust zwar – qualitätsbedingt – aromatisch gut genug, um als etwas Besonderes aufzufallen, aber die Sous-Vide-Garung führt hier letztlich zu einem sehr homogenen, ausschließlich »zarten« Eindruck am Gaumen, der einiges an Potenzial dieser Geflügelqualität verspielt. Zu dem Huhn gibt es noch ein Stück gebratene Gänseleber, die leider genauso von einem etwas metallischen Fehlton geprägt ist, wie ein Röllchen mit Geschmortem vom Huhn. Neben diesen weniger denkwürdigen Hauptdarstellerinnen macht der Teller mit dem klassischen Können dieser Küche wieder einiges wett. Ein Geflügeljus mit luxuriösem Glanz ist aromatisch konzentriert und »klebrig« an den Lippen, zwei Pommes Soufflées zeugen ebenfalls vom gewissenhaften Handwerk, auch die Handvoll Pfifferlinge trägt Relevantes bei. Aber man muss bei dem Gang schon etwas nachsichtig sein, um ins Schwärmen zu geraten. (7/10)

Das erste Dessert bringt einen leider auch nicht in diesen Zustand. Mango in verschiedenen Verarbeitungsformen – roh, als Eis und als Gel – ist hier unter anderem mit Avocado, Olivenöl und Koriander kombiniert. Das erinnert an einen glücklicherweise längst vergangenen Trend, als viele Restaurants der Meinung waren, Olivenöl an Desserts zu gießen wäre ein Akt der Kreativität. Die grasigen Aromen des Öls passen zwar zu Avocado und Koriander, aber gerade Letztere begleiten die Mango eher gewollt andersartig als wohlschmeckend und ausgewogen. Kokosnuss, die man hier auch einsetzt, geht in einer etwas stumpfen und zimmerwarmen Masse unter. Weder Komposition, Texturen noch Qualitäten können mich hier begeistern; ein solches Dessert sollte die Patisserie des Haerlin eigentlich nicht verlassen. (6/10)

Die Renekloden aus Schleswig-Holstein mit Hamburger Lagenhonig passen schon thematisch besser an die Alster. Die Edel-Pflaume ist herbstlich-aromatisch, steht klar im Vordergrund und wird mit einem »Kombucha-Zitrussorbet« angenehm frisch-herb begleitet, während der Honig eine willkommene Süße beisteuert. (Dass man immer wieder Zitrusaromen bemüht, steht auf einem anderen Blatt.) Das Dessert ist produktbetonter, aromatisch »kompakter« und in Summe einfach glaubwürdiger. Ein separat dazu serviertes, kugelförmiges Brioche-Gebäck eignet sich gut zum Stippen und Pur-Genießen. Es ist genau ein Dessert, das man sich hier wünscht. (7,5/10)

Sommelier Christian Scholz hat hierzu längst auch eine adäquate Antwort in ein neues Glas eingeschenkt, einen begeisternd komplexen 1999er Tokaji 6 Puttonyos Aszú vom ungarischen Weingut Királyudvar. Sogar seltene Branntweine des renommierten burgundischen Weinguts Roulot stehen später noch auf dem Tisch.

Mit dem Piepen des Kreditkartengeräts klingt ein weiterer kurzweiliger Abend am Hochtisch des Haerlin aus. Es war kulinarisch nicht der stärkste Abend, aber die Freude, hier einzukehren, bleibt ungebrochen. Bis bald, an der Alster.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Haerlin (→ Website)
Chef de Cuisine: Christoph Rüffer
Ort: Hamburg, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 01.10.2022
Guide Michelin (Deutschland 2022): **
Meine Bewertung dieses Essens: 7,5 (Was bedeutet das?)
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