César – des Kaisers neue Küche
Vor etwa einem Jahr stand ich schon einmal vor der Adresse 333 Hudson St., wohl wissend, dass mich hier noch eine Baustelle erwartet – die wohl spannendste der New Yorker Gastroszene: dem neuen und ersten eigenen Restaurant von César Ramirez.
Inzwischen ist die Baustelle einer einladend weißen Fassade mit schlichten schwarzen Fensterrahmen gewichen. Die weißen Vorhänge dahinter lassen allenfalls schemenhafte Blicke ins Innere zu. Nur das amtliche Hygienesiegel und die rote Michelin-Plakette machen klar, dass es sich beim César um ein Restaurant handelt. Diese Schlichtheit ist typisch New York, steht aber auch sinnbildlich für einen der Grundpfeiler von Ramirez’ Küche – eine Küche, die mich im Laufe meiner kulinarischen Passion geprägt hat wie kaum eine andere. Ich habe mich nie zu Aussagen eines für mich »besten« Restaurants hinreißen lassen – aber meine Berichte hier im Blog über Ramirez’ kulinarisches Schaffen sind eindeutig.
Dass Ramirez es geschafft hat, nur gut ein Jahr nach der Trennung vom Chef’s Table at Brooklyn Fare ein eigenes Restaurant nach seinen Ansprüchen zu eröffnen, ist in diesem Ausmaß wohl nur in New York möglich – einer Stadt, in der immer irgendwo Millionen fließen.
Jetzt trete ich endlich ein. Mein Gemütszustand ist eine Mischung aus leichter Nervosität, Erleichterung, Vorfreude, Euphorie und Appetit, was sich etwas seltsam anfühlt.
Nach dem freundlichen Empfang in einem kleinen Eingangsbereich betritt man die neue Welt von Ramirez. Fast die Hälfte des Restaurants nimmt der Küchenbereich ein. Ein langer, L-förmiger Tresen in normaler Sitzhöhe umgibt einen monumentalen Herdblock des südfranzösischen Herstellers Bonnet, den Ramirez den etwas bekannteren Molteni-Herden vorzieht. Dreizehn Plätze zähle ich am Tresen. Die normale Sitzhöhe sorgt für einen nahtlosen Übergang zum restlichen Teil des Gastraums, der mit weißgedeckten Tischen, Stühlen, Sitzbänken und cremefarbener Holzvertäfelung gemütliche Eleganz ausstrahlt. Knapp 40 weitere Plätze gibt es hier. Große Blumengestecke und die gedimmte Atmosphäre sprechen unverkennbar die Designsprache New Yorks.
Das Menü kostet 368 $ netto, die Weinbegleitung 280 $. Obwohl die Weinkarte viele verlockende Optionen bereithält, lasse ich mich heute auf die Weinbegleitung ein, nicht zuletzt, weil mir Ramirez sein komplettes gastronomisches Konzept präsentieren möchte.
1 938 Tage habe ich auf diesen Moment gewartet, auf den Augenblick, wieder eine Speise von Ramirez zu probieren – nun steht sie vor mir. Es handelt sich um ein dünnes, strohhalmförmiges Röllchen aus Brik-Teig, gefüllt mit geräucherter Forellen-Rillette und Forellenrogen. Der erste Bissen ist schon himmlisch, mit dem hauchdünnen, zart-knusprigen, leicht fettigen Teig, zu dem die üppige Cremigkeit der Füllung mit ihren fein justierten Räucheraromen perfekt passt. Die Temperatur des Snacks ist handwarm, wie ein Stück Nigiri aus der Hand eines Meisters. Da ist sie wieder, diese unvergleichliche Präzision, die Ramirez jedem sensorischen Aspekt seiner Speisen widmet. Schon das – verblüffend großartig. (9/10)
Im Glas ist dazu ein Sparkling Sake »AWA« von der Hakkaisan-Brauerei aus Niigata, Japan.
Und während mir vorhin nur kurz die Hand eines japanischen Meisters in den Sinn kam, bekommt man hier gleich eine ganze Ladung japanischer Perfektion. Eine dünne, rund geschnittene Scheibe Shima aji (Stachelmakrele) thront auf einer Rolle aus mit Wasabi aromatisiertem Reis, umhüllt von knusprigem, getrocknetem Noriblatt – eine unmissverständliche Hommage an Sushi. Am Gaumen entfaltet sich ein mundfüllendes, ergreifend genussvolles Erlebnis: Der perfekt geschnittene Fisch, dessen nussige, maritim-süße Aromen auf der Zunge tanzen, der handwarme Sushireis, die feine Knusprigkeit, die ideale Portionsgröße – all das verschmilzt zu einem vollkommenen Happen. (10/10)
Dann: Hokkaido-Seeigel mit spanischem Carabinero und Kaviar bilden ein rohes, maritimes Trio, angerichtet in einer krossen Reiswaffel (Monaka). Shiso-Blüten und japanische Schalotten liefern dazu florale Frische und eine zarte, ätherische Schärfe. Der üppige Snack ist in der Mitte geteilt, sodass man ihn in zwei großzügigen Portionen genießen kann. Der schmeichelhafte Nebeneffekt: Mit dem zweiten Happen lässt sich gleich bestätigen, ob das, was man eben geschmeckt hat, wirklich real war: diese vielschichtige, tief umami-geladene Woge von Jod, Süße, Eleganz und Frische. Ein Gänsehautmoment. (10/10)
Aus der Weinbegleitung bereitet inzwischen ein 2021er Meursault von der Domaine Dujardin Freude – gut, aber unauffällig.
Der nächste Snack könnte kaum reduzierter sein: Fish and Chips – interpretiert als ein Stück Kisu (Japanischer Wittling), das in einen hauchdünnen Kartoffelchip eingewoben wurde. Der delikate Fisch hat in Japan gerade Saison und wird von Sushi- und Tempura-Meistern besonders im späten Frühling geschätzt. Solche Verbeugungen in Richtung Japan sind typisch für Ramirez, der einer der wenigen Köche außerhalb Japans ist, die Zugang zu solchen Produkten haben, sie präzise verarbeiten und in einen derart schlüssigen Kontext setzen können, dass nie der Eindruck von Anmaßung oder plumper Fusion entsteht. Der warme, krosse, leicht fettige Kartoffelchip verbindet sich mit dem mild-nussigen, leicht süßlichen Fisch, dessen zarte, fast flaumige Textur ideal zum Eindruck eines krossen Fischfilets zu Pommes Frites passt. Ein weiterer großartiger Snack. (9/10)
Die Stimmung ist entschleunigt und doch lebhaft, das Restaurant hat sich inzwischen fast unbemerkt gefüllt. Ramirez selbst arbeitet im Hintergrund, serviert manchmal die Gänge persönlich. Er ist kein Selbstdarsteller, sondern leiser Perfektionist. Erstaunlich ist auch die Zusammenarbeit des völlig neuen Teams: Sowohl hinter als auch vor dem Tresen läuft alles – zumindest augenscheinlich – wie ein Uhrwerk.
Dann folgt das ikonische Meisterwerk: eine mundfüllende Portion Hokkaido-Seeigel, glasiert mit einer hausgereiften Sojasauce, angerichtet auf einem Stück mit schwarzem Trüffel bestrichenem Brioche-Toast. Das Genusserlebnis beginnt mit dem kühlen, nussig-süßlichen Uni, dessen charakteristische Jodigkeit immer irgendwie an Hafenbecken aus längst vergangenen Sommerurlauben erinnert. Die seidige Cremigkeit trifft auf den luftigen, knusprigen Toast, während der intensive Périgord-Trüffel eine erdige Tiefe hinzufügt. Alles ist perfekt austariert: Temperaturen, Texturen, Aromen – ein Signature-Happen, der sich unauslöschlich einprägt. Ich ärgere mich im Nachhinein, die Speise nicht nachbestellt zu haben – und dann noch mal und noch mal. (10/10)
Als ich bereit bin, spüle ich den Rest des lukullischen Nachhalls mit einem Schluck Laherte Frères »Rosé de Meunier«-Champagner hinunter. Dann geht es auch schon weiter.
Nach wie vor in edlem Hering-Geschirr serviert, folgt eine als »Bluefin Tuna Parfait« angekündigte Speise. Die entpuppt sich als ein Ensemble aus in Würfel geschnittenem Thunfischbauch, der mit einer großzügigen Portion Kaviari-Kaviar beschwert wurde. Darunter findet man fein gehobelten Daikon sowie winzige Kartoffelstückchen für etwas Knusprigkeit. All das wird von einem leichten, klaren Tomatengelee zusammengehalten, während etwas Schnittlauchöl kräuterige Akzente setzt. Schmelz, Umami, Kräuter, Salz und Frische harmonieren hier perfekt. Löffel um Löffel kann ich die Erlebnisse, die Ramirez hier zusammenstellt, nur ungläubig und schweigend genießen. (10/10)
Zu einem Glas Viognier des australischen Weinguts Farr wird der nächste Gang serviert. Wieder steht ein tiefes Gefäß vor mir, das man mit dem Löffel genießt. Erst die Küche von Ramirez hat mir über die Jahre verdeutlicht, dass die größten kulinarischen Momente selten mit Messer und Gabel stattfinden. Hier taucht der Löffel in ein dampfendes Zutatenmeer: am Grund ein seidiges Chawanmushi, übergossen mit heißem Dashi, in dem sich Foie Gras, Königskrabbe, Zuckererbsen und Judasohr-Pilze tummeln. Der Duft, der dem Schälchen entweicht, ist erdig und maritim zugleich, am Gaumen entfaltet sich japanische Klarheit und ein floraler Pfeffer zum Verlieben. Dass Gerichte so verzaubern können, muss man erlebt haben. (10/10)
Ein Glas 2023er Grüner Veltliner Federspiel »Treu« vom Weingut Mathias Hirtzberger aus der Wachau sorgt für etwas Abkühlung.
Es folgt ein Surf and Turf ungeahnter Güte. Da ist einmal ein ansehnliches Stück Kaisergranat, das auf einem Stück Jakobsmuschel aus Maine mit ansehnlichen Röstspuren platziert wurde. Die Turf-Komponente kommt in Form eines Stücks gebratener Foie Gras – außen goldbraun, innen idealerweise nicht mehr rosé, sondern hautfarben. In der Tellermitte findet man Frühlingserbsen mit Erbsenschaum und -püree; an die Seite der Foie schmiegt sich noch ein Jus gras.
Foie Gras, Jakobsmuschel, Kaisergranat und Erbsen: Wer diese an sich schon hervorragenden Zutaten in handelsüblichen Qualitäten einkauft und mit großem Geschick zubereitet, wird nicht einmal im Ansatz so weit kommen, wie Ramirez mit diesem Teller. Nun sind handelsübliche Qualitäten auch nicht der Maßstab von Ramirez’ Küche, aber es ist kaum auszumachen, wie viele unterschiedliche Details für das hohe Niveau dieses Tellers verantwortlich sind. Das ist natürlich einmal die kompromisslose Qualität der Zutaten, aber es ist auch das fanatisch hohe handwerkliche Niveau, das Ramirez hier auslebt: perfekt austarierte Portionsgrößen (der Kaisergranat ist halbiert!), ideale Proportionen (Meerestiere und Foie Gras haben ein ähnliches Volumen), präziseste Garpunkte, spannende Temperaturen (Hitze!) und genusssteigernde Zuschnitte (kantig geschnittene Leber) sind nur einige der faszinierenden Details, die auch diese Speise in den siebten Genusshimmel befördern – und mich gleich mit. (10/10)
Als ich wieder auf dem Stuhl sitze – ich verschwand tatsächlich kurz – wird ein 2021er Anjou »Vent de Spilite« von der Domaine Ogereau eingeschenkt.
Auf dem nächsten Teller geht es weiterhin reduziert zu, doch genau diese Optik spricht Bände. Wer aus der Spitzengastronomie nur chirurgisch präzise angerichtete, flache Teller kennt, die schnell erkalten und auf denen man sich seine »Akkorde« mit Messer und Gabel selbst zusammenstellt, wird sich bei Ramirez wundern. Dessen Zutaten sind eng zusammengerückt, speichern bei Bedarf die Hitze und werden meist von einer anspruchsvollen, aromatischen Sauce begleitet. Geometrisches Anrichten hat Ramirez immer als überflüssig erachtet; Schäumchen, Gels, Tupfen und Saucenstriche haben ebenfalls keinen Platz in einer Küche, die lieber mit der Farbe der gebratenen Fischhaut begeistern möchte – und mit der Qualität, die sich darunter verbirgt.
Hier wurde eine Makrele (Sawara) – heute frisch aus Japan eingetroffen – über Binchōtan-Holzkohle gegrillt, die den ganzen Abend in einer speziellen Vorrichtung des Herdblocks vor sich hin glimmt. Ramirez kennt die idealen Garpunkte für seine wertvollen Zutaten und erreicht diese immer mit größtmöglicher Präzision. Diese Makrele ist so zart wie ein weich gekochtes Ei; man erwartet fast, dass Eigelb aus ihr herausläuft. Die hocharomatische, knackig gegarte Spargelspitze, bemerkenswert saftige Pfifferlinge (ohne Röstaromen – die soll nur der Fisch haben) und eine kräuterig-sahnige Sauce setzen den wunderbaren Fisch in einen lebhaften, frühlingshaften Kontext. Zum ersten Mal begleitet einen Gang auch ein Messer, aber das benötige ich lediglich für den knackigen Spargel. Danach bemühe ich wieder den Löffel, um jede Stelle des Tellers auszulöffeln. Sagenhaft. (10/10)
Als ersten Fleischgang gibt es kalifornische Wachtel, im Glas ist dazu ein 2020er Barbaresco des Weinguts Morra Gabriele. Das rosa gebratene Geflügel wird von Morcheln, Radicchio, einem an Mangold erinnernden Gemüse und einem Morcheljus begleitet, der herrlich an den Lippen klebt. Die Wachtel hat eine knusprige, goldbraune Haut, eine dünne, appetitliche Fettschicht und schmeckt wie ein Stück gebratene Foie Gras: nussig, karamellig, butterzart – eine Referenz. Die erdigen Morcheln und die bitteren Gemüse dazu lassen das Niveau nicht eine Nuance verrutschen. Ergreifend gut. (10/10)
Mit dem letzten herzhaften Gang fasst Ramirez noch einmal zusammen, wofür seine Küche steht: radikale Reduktion. Ein quaderförmiges Stück »A4«-Miyazaki-Ribeye liegt hier in einer dunklen, leicht stückigen Sauce; dazu gibt es Huitlacoche – einen schwarzgrauen Maispilz, der in der mexikanischen Küche als Delikatesse gilt. Dessen Geschmack ist erdig, trüffelartig, mit einem Hauch Süße – hier aber spielt er, ebenso wie das butterzarte Fleisch, eine glänzende Nebenrolle. Der wahre Star ist die Sauce: eine Mole von tiefer, rauchiger Würze, prägnanter Schärfe und einer schwer zu fassenden Komplexität. Es ist das erste Gericht mit explizitem Heimatbezug, das ich von Ramirez probiere – und es ist ein starkes, mutiges Statement. Ein Triumph. (10/10)
Ich bin glücklich, satt und sprachlos, und lasse mir noch etwas von dem 2020er Saint-Joseph von der Domaine Jean-Claude Marsanne nachschenken, bevor es mit den Desserts weitergeht – und einem Sake »Kamoizumi Komekome-Shu«.
Das Pré-Dessert ist ein grün-weißer Honigmelonen-Pavlova mit Limette, Holunderblüte und Thai-Basilikum in verschiedenen Zubereitungen. Die Speise schmeckt völlig anders als erwartet: nicht kalt, säurebetont und zitrisch, sondern leichtfüßig süß, himmlisch floral und mit wolkigen Texturen. Kaum zu glauben, was hier vor sich geht. Man muss das probieren, um es zu verstehen. (10/10)
Ebenso genial ist das technisch verblüffende, gefrorene Matcha-Soufflé, das zu großen Teilen aus Luft zu bestehen scheint. Der verbleibende Rest kollabiert im Mund zu einem cremigen Eisgenuss, dessen feine Bitternote vom grünen Tee getragen wird. Am Grund des Tellers setzen eine süße Matcha-Creme und knusprige Karamellperlen den idealen Kontrast. Himmlisch. (10/10)
Und selbst die Petits Fours, eine Erdbeertarte und ein Choux mit gesalzener Vanillecreme sind so überzeichnet geschmackvoll, dass mir nur die Parallele mit dem Schlaraffenland bleibt. Es ist eigentlich unfassbar. (10/10)
César ist kein Neubeginn, keine Neuerfindung. Es ist die Essenz eines Küchenchefs, der nichts mehr beweisen muss – und gerade deshalb die Dinge auf das reduziert, was wirklich zählt. Kein Teller wirkt konstruiert, kein Aroma gesucht, kein Moment inszeniert. Alles hat eine innere Ruhe, eine Selbstverständlichkeit, die nur entstehen kann, wenn Erfahrung, Präzision und Vertrauen in das eigene Handwerk zusammenkommen. Die japanischen Anleihen sind kein Zitat, sondern Haltung. Der Luxus liegt nicht in der Inszenierung, sondern im Weglassen. César Ramirez kocht nicht, um zu beeindrucken, sondern um zu bewegen. Und genau das gelingt ihm – so leise wie groß.