Jungsik – elftausend Kilometer
Manche Restaurants schaffen es fast geräuschlos an die Spitze der Haute Cuisine. Das Jungsik in New York ist so ein Fall. Der dritte Stern kam für viele überraschend – und doch muss man gleich einwenden: Ein Geheimtipp ist dieses Restaurant längst nicht mehr. Küchenchef und Inhaber Jungsik Kim betreibt gleich zwei Ableger seines Konzepts, in Seoul und in New York. Beide kommen zusammen auf fünf Michelin-Sterne.
Die Filiale in New York war zu seiner Eröffnung im Jahr 2011 wegweisend für den New Korean-Trend im Fine Dining, der u. a. mit Restaurants wie Atomix und Cote weitergeführt wurde.
Als ich heute Abend Platz nehme, wirkt vieles vertraut – mein letzter Besuch liegt bereits elf Jahre zurück. Die Erinnerung ist etwas verblasst, aber das Erscheinungsbild kommt mir noch bekannt vor: ein schlichtes Interieur mit einer Farbpalette in Schwarz, Weiß und Braun, geprägt von klaren Linien und einem zeitlosen New Yorker Designduktus.
Das Menü wird im Voraus über Tock bezahlt (ist bei angemessener Frist jedoch stornierbar) und kostet rund 320 $ (brutto) pro Person. Vor Ort lässt sich das Menü noch um drei Zusatzgerichte erweitern. Da ich heute Mittag schon recht maßlos im Le Bernardin geschlemmt habe, halte ich mich zunächst mit Extras zurück, nicht jedoch, ohne dem Personal meine missliche Lage zu erläutern. Man quittiert dies mit einer weltläufigen, souveränen Lässigkeit – es ist nur ein Blick aus dem Augenwinkel, der signalisiert: kein Problem, wir schauen einfach später, man kümmert sich.
Die Weinkarte ist umfangreich – auch und vor allem in meiner Lieblingsregion Burgund. Daraus wähle ich einen 2019er Chambolle-Musigny 1er Cru »Les Baudes« von der Domaine Sérafin (457 $), und dann kann es auch schon losgehen.
Zuerst erreicht eine Batterie an Amuse-Bouches den Platz. Ich bin kein großer Freund solcher Arrangements, weil man schnell satt wird, die Eindrücke manchmal überfordern und nur selten alle Kreationen auf höchstem Niveau sind.
Doch hier setzt gleich ein kleines Brioche-Toast mit Wagyu-Tatar und Périgord-Trüffel mit süffiger Säure, ätherischem Trüffel und perfekt gewürztem, buttrigem Fleisch ein Ausrufzeichen (8,9/10). Eine Croustade mit süß marinierten Garnelen, Kartoffelcreme mit Yuzu und geräuchertem Forellenrogen ist minimal rustikaler, aber immer noch hervorragend (8/10).
Ein in seiner Schale serviertes, gedämpftes Ei (Gyeran-jjim) – eine Art Chawanmushi – mit Gamtae-Algen überzeugt erst beim zweiten Löffel mit feinem Handwerk und einer maritimen Eleganz, die ich zuerst als etwas eindimensional wahrgenommen hatte (7,9/10). Ein mit Tintenfischtinte schwarz gefärbter Reisball mit Tintenfisch, ist dann nicht weniger als großartig: heiß, leicht knusprig, salzig-würzig, perfekt (9/10). Eine Tartelette mit Birne und Foie gras erinnert eher an ein Dessert und überzeugt mit Schmelz und appetitlicher Säure (8,5/10).
Ich bin erleichtert, war das Niveau der Kleinigkeiten doch durchweg auf hohem Niveau.
Der erste Gang schließt daran an. Es gibt rohe, leicht gereifte Stachelmakrele als Röschen, gebettet in einem cremigen Kimchi-Sud mit Schnittlauchöl und getoppt von einer Nocke Osietra-Kaviar. Zuerst frappiert die präzise abgestimmte Kühle der Komposition, dann der prononcierte Salzgehalt – wie ein Schluck klaren, kalten Meerwassers. Unterschiedliche Grade von Schmelz – vom Fisch, vom Kaviar, vom leicht viskosen Sud – verleihen dem Teller bei aller Eleganz spürbare Tiefe. Ganz hohes Niveau. (9/10)
Der nächste Gang wirkt äußerst reduziert: ein einzelner Oktopusarm, der in Dashi gegart und anschließend frittiert wurde. Gewürzt ist er mit etwas Estragon und Petersilie, begleitet lediglich von einem Klecks Gochujang-Mayonnaise – sonst nichts. Der Oktopus ist heiß, butterzart und doch mit elastischem Biss – außerhalb der (davon klar abweichenden) Zubereitungen japanischer Meisterköche ist das eine absolute Referenz, handwerklich wie qualitativ. Jedes Stück, das man mit der umamiwürzigen, pikant-warmen Mayonnaise zum Gaumen führt, ist ein Hochgenuss. (8,9/10)
Umso irritierender ist das dazu gereichte Besteck, das so wirkt wie standardisierte Gastro-Ware. Ich suche hier keine Nadel im Heuhaufen, aber es kommt selten vor, dass mir ein solches Detail in der Spitzengastronomie negativ auffällt.
Eine kleine Cocotte, die die Hitze speichert, beinhaltet den nächsten Gang. Hierzu wurde eine aufgeschnittene Jakobsmuschel aus Massachusetts auf einer schwarzen, an Risotto erinnernden Zubereitung angerichtet. Dabei handelt es sich um Nurungji, gebrannter Reis, der hier mit Tintenfischtinte, Kimchi und Buchweizen kombiniert wurde. Ein dichter, warmer Dampf steigt auf – rauchig, salzig, mit Noten von getoastetem Buchweizen und der tiefen Erdigkeit von Tintenfischtinte. Bevor ich meine Nase allzu tief hineinstecken kann, wird noch eine Zitrusemulsion angegossen, die gleich am Gaumen eine plötzliche Frische ins Spiel bringen wird, jedoch nicht zu viel, eher warm, weich und seidig. Die Qualität der Muschel ist herausragend, und ihr Gargrad ist perfekt, obwohl das Gericht sicherlich schon vor zwei Minuten den Pass verlassen hat. Röstaromen, Zitrusnoten, Maritimes, Erdiges, Hitze und Rauch – ein Wohlfühlgericht auf höchstem Niveau. (9/10)
Der reduzierte Stil gefällt mir bisher sehr gut – auch beim nächsten Gang. Es gibt dry-aged und auf der Haut gegrillten Saibling, angerichtet in einer etwas viskosen Sauce mit Zitrusfrüchten, Ingwer, Perilla und Saiblingsrogen. Die Sauce ist der eigentliche Star: betont säuerlich, floral-würzig und aromatisch komplex. Etwas Lauchöl bringt dazu eine grüne Frische ins Spiel. Der Fisch selbst überzeugt sensorisch vor allem durch den Kontrast zwischen knuspriger Haut und butterzartem, saftigem Fleisch. Auch dieses Gericht gehört unbedingt mit dem Löffel genossen. Einzig suboptimal ist die für mein Empfinden zu geringe Temperatur des Fischs. Es bleibt aber mehr als hervorragend. (8,5/10)
Nach einer angenehmen kleinen Pause kehrt man mit einer Überraschung zurück an den Tisch. Die Küche kredenzt die zwei Zusatzgerichte, mit denen ich zu Beginn geliebäugelt, aber wegen des Menü-Umfangs dann doch nicht mehr thematisiert hatte.
Das erste ist ein Klassiker des Hauses und hört auf den Namen Seeigel-Bibimbap (75 $). Ein Bibimbap ist traditionell ein Potpourri aus Reis, Gemüse, Ei und oft Rindfleisch und existiert in Korea in zahllosen Ausprägungen. Diese Interpretation kommt mit einer üppigen Portion Hokkaido-Seeigel, angerichtet auf mit Algen aromatisiertem, geröstetem Reis. Gepuffte Quinoa sorgt für zusätzlichen Crunch. Die jodig-süßliche, nussige Cremigkeit des Seeigels gelangt hier ideal zur Geltung – pur, aber eingebettet in fein abgestimmte Kontraste. Es ist der letzte Seeigel-Fix dieser Reise, bevor es zurück in die Uni-Wüste Deutschland geht. Ich atme tief durch und genieße noch eine Weile den geschmacklichen Nachhall der großen weiten Welt. (9/10)
Périgord-Trüffel feinster Qualität assoziiere ich inzwischen paradoxerweise längst mit Restaurants außerhalb Europas, daher ist es umso schlüssig, auch hier auf diese zu stoßen. Sie werden frisch über ein Kongguksu gehobelt, ein traditionelles koreanisches Nudelgericht mit Sojamilchbrühe. Der Teller (65 $) erinnert naturgemäß an vergleichbare Pastagerichte italienischer Façon und ist, ganz für sich allein betrachtet, großes Kino: der quietschfrische, erdige Trüffel vermengt sich mit der Sojabrühe zu einem cremig-nussigen Genussensemble, in das man regelrecht eintauchen kann. Die Nudeln haben einen leichten Biss und transportieren die Aromen perfekt. Dass das Gericht durch den Trüffel äußerst unkoreanisch wirkt, steht auf einem anderen Blatt und tut dem Weltklasseniveau keinen Abbruch. (9/10)
Das nächste Gericht ist noch fesselnder – besser geht es ohnehin kaum noch. Vier dick geschnittene, rohe Tranchen Gelbschwanzmakrele sind mit dünn geschnittenen Perilla-Blättern bedeckt und dienen als »Belag« für eine Rolle Kimbap. Die an eine Sushirolle erinnernde Kreation aus knusprigen Algen ist mit getrüffeltem Reis und Kimchi gefüllt. Zusammen mit dem Fisch bietet das Gericht spannungsgeladenen Genuss zwischen kühler Klarheit und salziger Rauchigkeit. Der Klecks einer umamiwürzigen Mayonnaise bindet alles perfekt zusammen. Himmlisch. (10/10)
Der letzte herzhafte Gang – so schließe ich es zumindest aus dem Menü – heißt Galbi und referenziert damit ein koreanisches Barbecue-Gericht. Der Hauptteller enthält einige Scheiben gegrillten und sichtlich zarten Rindfleischs, die auf einer mit Gondre (Distel) aromatisierten Reis-Graupen-Mischung angerichtet sind. Kleine aromatische Holzraslinge und ein glänzender, heller Jus begleiten das Ganze. Begleitend dazu findet man auf separaten Tellern einen pikant-frischen Salat mit Braunem Senf sowie etwas weißen Kimchi. Das Fleisch ist zart und aromatisch, auch wenn man sich fragt, warum hier Wagyu aus Nebraska zum Einsatz kommt – und nicht das in diesem Kontext naheliegendere Hanwoo aus Korea. (Mir fiel das bereits im vergangenen Jahr im Atomix auf. Möglicherweise handelt es sich hier auch um ein Bezugsproblem.)
Insgesamt ist aber auch dieses Gericht hervorragend. Die Reiszubereitung überzeugt, wie alle bisher, durch präzise Garung; der Salat setzt süßlich-bittere Akzente, die dem Gericht Tiefe verleihen. Bemerkenswert ist, wie sich der Genuss des Gerichts mit jedem Bissen steigert – ein Effekt, der dem präzise konzipierten Aufbau des Gerichts zuzuschreiben ist. Am Ende steht ein sehr hohes Niveau, mit einem kleinen Abzug für die (trotz allem exzellente) Fleischwahl, aber vielen Pluspunkten für Technik, Genuss und Ausführung. (8,9/10)
Das erste Dessert folgt dem Prinzip einer kleinen Erfrischung und kommt hier in Form eines Hallabong-Sorbets. Die auch als Dekopon bekannte Mandarinenart, intensiv aromatisch und mild süß, kommt hier sehr authentisch zur Geltung. Begleitet wird das Sorbet von einem Granité aus Muskateller-Trauben. Das ist insgesamt eine naturgemäß sehr kalte Angelegenheit, doch die Aromen sind hervorragend aufeinander abgestimmt. (8,5/10)
Das lange Menü endet mit einer dreifachen Überraschung. Die erste: Das Restaurant hat, im Wissen um meine bevorstehende Abreise, »Bon Voyage« auf den Teller geschrieben – eine charmante Geste. Die zweite: die höchst eigentümliche Optik des Desserts, für die man viel Fantasie aufbringen muss, um keine phallischen Assoziationen zu haben. Und die dritte: Die Kreation selbst, eine Komposition aus Walnusskuchen (Hodugwaja), roten Bohnen in verschiedenen Texturen sowie Elementen, von denen einige geschmacklich an Pistazie erinnern, andere wiederum recht bitter sind, schafft es bei weitem nicht, an die Genüsse der vergangenen Stunden anzuknüpfen. Nach wenigen Löffeln wirkt das Arrangement wie ein Schlachtfeld aus Cremes, Eis, Pasten und Pulvern. Ich esse nicht alles auf. (6,9/10)
Schwamm drüber. Nach so vielen hervorragenden Gerichten gibt es keinen Anlass zur Klage. Der einzige Kritikpunkt, der mir einfällt – ohne zwingend nach einem zu suchen – ist, dass man bezüglich koreanischer Aromen und Zutaten etwas genauer hinsehen muss. Die Küche im Jungsik wirkt etwas angepasst und mutlos, was ihr jedoch weder qualitativ noch handwerklich schadet. Aber Seoul? Bleibt elftausend Kilometer entfernt.