Charlie’s ‒ lässig lunchen
Wenn ich eine Art ideales Restaurant entwerfen müsste, entstünde dabei kein Sternetempel mit Tasting-Menü, sondern ein Restaurant wie Charlie’s.
Das erst zwei Jahre junge Restaurant in St. Helena im Napa Valley wird von dem Neuseeländer Elliot Bell betrieben, der in den USA aufwuchs und dessen kulinarischer Weg vom Tellerwäscher in Iowa bis zum Executive Chef in Thomas Kellers The French Laundry führte.
An einem warmen Donnerstagmittag wage ich einen Walk-in ‒ um kurz vor zwölf noch kein Problem. Eine Stunde später versteht man sein eigenes Wort nicht mehr. Der Hauptspeisesaal wird zentral von einem großen, U-förmigen Bar-Tresen dominiert, der die Ungezwungenheit des Restaurants unterstreicht. Charlie’s hat sich in kürzester Zeit zu einem Nachbarschafts-Hotspot entwickelt und erhält inzwischen auch nationale Beachtung und Auszeichnungen.
Das Giebeldach mit weiß lackierten Holzbalken in Verbindung mit pastelligen Farbakzenten strahlt eine Art pazifische Strandbar-Atmosphäre aus ‒ einladend zwanglos und nahbar. Hier könnte man ohne Weiteres eine Serie mit surfenden Teenagern drehen. Dass das Meer vierzig Meilen weit weg ist: geschenkt.
Ich nehme am Tresen Platz, mustere die Speisekarte, die auf eine ‒ ansprechend gestaltete ‒ Seite passt und bestelle ein Glas Freestone-Occidental Pinot Noir (35 $).
Die Mittagskarte ‒ es gibt auch noch eine Brunch-, Dinner-, Happy-Hour- und Late-Night-Karte ‒ ist ein Musterbeispiel für zeitgenössische amerikanische Bistro-Küche: zugänglich und kreativ zugleich, produktverliebt, gehoben lässig und mit einer qualitativen Selbstverständlichkeit, die mich staunen lässt und Appetit macht.
Als erstes bestelle ich ein halbes Dutzend »BBQ«-Austern (22 $) von der Tomales Bay nördlich von San Francisco. Die Austern sind angenehm klein und mit einer feurig-fruchtigen, öligen Nashville Hot Sauce gewürzt. Das ist nicht zu scharf, aber kurzweilig pikant und etwas rauchig. Ob der Pinot dazu passt? Natürlich nicht. Aber die Austern sind schneller verputzt, als dass es jemand monieren könnte. (7/10)
Womit weitermachen? Die „Hawaiian Rolls“ (8 $) klingen gut, gerne auch mit der optionalen Portion »Regiis Ova«-Kaviar (zzgl. 35 $), der Marke von Thomas Keller. Das fluffige Brötchen ist mit Ananas-Schweinefett aromatisiert, macht klebrige Hände und schmeckt wie eine nicht ganz so süße Brioche: wolkig, luftig, fettig, besonders in Kombination mit der hausgemachten Butter. Etwas mehr Kaviar hätte es allerdings sein dürfen ‒ die kleine Messerspitze trägt kaum etwas Nennenswertes bei. Das ist sehr gut, keine Frage, aber der üppige Snack eignet sich eher zum Teilen oder als Begleiter des Mahls. (7/10)
Weiter, weiter ‒ mehr ist mehr! Kielbasa (20 $), eine polnische Bauern-Räucherwurst mit Rind aus St. Helena, ist beim nächsten Teller mit Brezelteig ummantelt und kommt mit süß-scharfem Senf und einem warmen Kohl-Relish – süß-sauer, würzig, perfekt dazu. Die Wurst ist knackig, sehr salzig und sehr saftig, der Brezelteig jedoch unerwartet hart ‒ und mächtig. (6,5/10)
Ich bin satt; mein schneller Lunch war so ergiebig wie so manches Tasting-Menü. Aber ich möchte noch nicht gehen. Inzwischen pulsiert der Laden. Freunde, Paare, Einzelgäste, Nachbarn, Reisende ‒ alle scheinen die vibrierende Atmosphäre und das gute Essen zu genießen. Genau die richtige Stimmung für noch ein Glas Pinot Noir.