Enclos – Hund auf der Karte
Als ich mich am Abend auf den knapp einstündigen Weg von Rutherford nach Sonoma mache, habe ich noch keine genaue Vorstellung davon, was mich gastronomisch erwarten wird. Ich weiß nur: Im pittoresken Wein-Städtchen Sonoma kocht ein Küchenchef namens Brian Limoges ein regional inspiriertes Menü auf Zwei-Sterne-Niveau. Das genügte mir als Anlass, um die sonst eher rural-lässige Gastronomie des Napa Valley mit etwas Fine Dining zu unterbrechen.
Die Fahrt lohnt sich bereits für die Ankunftsszene: Das erst knapp ein Jahr alte Restaurant, untergebracht in einer charmanten viktorianischen Villa, verbirgt sich hinter zwei knorrigen Olivenbäumen. Sanfte Beleuchtung zeichnet den Weg zum Eingang, wo man herzlich empfangen wird.
Das Interieur besticht mit viel edlem Holz, moderner Geradlinigkeit und einer offenen Küche mit auffällig viel, aber sehr leise arbeitendem Personal. Rein vom Interieur könnte man das Restaurant auch gut in Skandinavien verorten.
Ein nettes Detail: Auf dem Tisch findet man als Begrüßung eine, wie ich erfahre, vom Restaurantleiter selbst gezeichnete Skizze – in meinem Fall ein Hund vor einem Teller, für andere Gäste wechselt das Motiv.
Während das Menü selbst eine Überraschung bleibt, stöbere ich in der Weinkarte und werde recht schnell fündig. Das Weingut Littorai ist ein Favorit von mir und stammt hier unmittelbar aus der Gegend. Von verschiedenen, allesamt gereiften Einzellagen fällt meine Wahl auf den 2013er »Cerise Vineyard« (400 $, ca. 400 €). Es ist ein lebhafter, vielschichtiger Sonoma-Coast-Pinot mit frischer Säure, Noten von Kirsche, Granatapfel, Orangenschale und etwas Lavendel – elegant und ausgesprochen trinkfreudig.
Dann geht es los. Nach einer kühlen, und appetitanregend salzigen Infusion von Galia-Melone und Kamille folgt ein Gougère mit Zubereitungen um Orangenblüte und Pinie. Von den mediterran-aromatischen Mitspielern schmeckt man leider nicht allzu viel; man genießt daher ein klassisches, leicht warmes Käsegebäck auf solidem Niveau. (7/10)
Das zweite Amuse rüttelt wach: Ein Ring aus Croustade-Teig mit gezupfter Languste, Chilifäden sowie Cremes aus Langustenhirn und Koriander erinnert geschmacklich charmant an eine Lobster Roll von der US-Ostküste, der Heimat des Küchenchefs. Das maritim-aromatische Krustentier, der hauchdünn knusprige Teig und die vollmundigen Cremes mit pikantem Nachhall ergeben zusammen einen hervorragenden weiteren Auftakt. (8/10)
Eine Tartelette aus geräuchertem Hafer mit Rehtatar und Zitrusfrüchten – originell auf einem Hirschgeweih präsentiert – bleibt mit rauchig-cremigem Schmelz und kühler Temperatur auf diesem hohen Niveau. (8/10)
Auch der folgende Snack ist noch Teil der Einstimmungen. Es gibt einen »Pudding« aus Steckrübenbrot mit Walnüssen, der am Tisch mit hundertjährigem Balsamessig veredelt wird. Die Speise, die schwerer ist als erwartet, schmeckt süßlich, knusprig, nussig, »dunkel« und nach Kaminzimmer – erneut hervorragend und erfrischend unverspielt. (8/10)
Der erste Menügang ist eine Variation von Tomaten von der Stone Edge Farm, dem Betrieb, dem das Restaurant Enclos zugehörig ist und von dem viele Zutaten hier bezogen werden. Siebzehn verschiedene Tomatensorten werden im Menü dazu aufgeführt. Sie sind enthäutet, teilweise halbiert und, zusammen mit Olivenöl, Eiskraut, Shiso, geradezu pikantem Basilikum sowie Himbeeren in Tomatenwasser angerichtet und kühl serviert.
Das Ergebnis ist ein erwartungsgemäß sehr aromatisches Potpourri mit Säure, Süße und Umami als geschmackliche Träger. Einzig irritierend sind die Himbeeren, die für mich etwas zu absichtsvoll platziert wirken – als wollte man dem Gericht bewusst einen Überraschungsmoment hinzufügen, obwohl die puristische Aromatik der Tomaten schon genügt hätte. In der sonst hervorragenden Komposition ist das ein Gedanke zu viel. (7,9/10)
Die variierenden, geschmackvollen Anrichtweisen setzen sich beim nächsten Gang fort. In einem Schälchen, das auf einem Eiszylinder platziert ist – der wiederum auf einem Tuch, das auf einem Teller platziert wurde –, findet man rohe Eismeergarnele mit Scheiben von Quitte, Rettich und Nektarine. All das ist in einem kühlen, transparenten Sud angerichtet, der seine rote Farbe von verschiedenen Gemüsen erhält. Die kühle Temperatur, die man als eine der Hauptzutaten des Gerichts verstehen muss, hält die qualitativ bemerkenswerten Garnelen angenehm bissfest, balanciert die angenehme Säure und anspruchsvolle Bitterkeit aus und bringt eine ganz spezielle Klarheit in dieses kleine, feine Gericht. Großartig! (9/10)
Nach dem Auftischen von hausgemachter Brioche, Sauerteigbrot aus Eichelmehl, und ideal temperierter Butter mit Meersalz folgt der nächste Gang: ein weiterer Wink in Richtung östlicher Heimat des Küchenchefs.
Ein »Clam Chowder«-Chawanmushi mit Muscheln, N25-Kaviar, feinen weißen Spargelfäden und einer Velouté aus fermentiertem Spargel präsentiert sich warm, salzig und elegant maritim. Aromatisch erinnert das nur lose an den Ostküstenklassiker; bei allem Genuss fehlt mir jedoch etwas von jener geschmacklichen Tiefe, die die Komposition zu versprechen scheint. Dennoch ist das ein stimmiges, fein austariertes Gericht, das ich genüsslich auslöffle. (7,5/10)
Das exzellente Menü fährt fort mit 60 Tage gereiftem Thunfischbauch aus der Half Moon Bay, der zuvor kurz am Tisch präsentiert wird und in seiner tiefroten, marmorierten Struktur beinahe an Rindfleisch erinnert. Verarbeitet wird daraus ein Tatar, das zusammen mit einer luftigen Seeigel-Sabayon und kleinen Sukkulenten auf zertifiziertem kalifornischem Koshihikari-Reis angerichtet ist.
Die Kombination ist schlicht umwerfend: Der warme, locker-körnige Reis bildet die perfekte Bühne für die salzig-umamiintensive Verbindung von Thunfisch und Seeigel. Die Sabayon verleiht dem Gericht eine cremige Textur, während die Reife des Fischs eine subtile Tiefe und Wärme entwickelt, die an gereiftes Wagyu erinnert. Betörend harmonisch und lässig perfekt. (9/10)
Weiter geht’s mit Wachtel von der Wolfe Ranch – einem der renommiertesten Geflügelproduzenten der USA, nur wenige Meilen von Sonoma entfernt. Der geschmackvolle Teller präsentiert zwei perfekt dunkelbraun geröstete Stücke des Vogels: einmal die Keule, die an einem kleinen Metallstab fixiert wurde, sowie ein Stück der Brust. Begleitet wird das von einer geheimnisvollen, dunkelroten Komposition aus Artischocke, Hagebutte, Nektarine und gegrillten Rosen, deren Duft fruchtig-floral in die Nase steigt. Dazu wird ein heller, aber dichter Jus angegossen, der leicht weihnachtlich duftet.
Während man noch mit dem Genießen beschäftigt ist, wird am Tisch aus einer speziellen, kesselartigen Apparatur eine heiße Brühe aus den Knochen der Wachtel in ein kleines Schälchen gegossen – zubereitet mit Ingwer, Knoblauch und Schnittlauch, was ihr eine frische, beinahe exotische Note verleiht. Erneut großartig. (9/10)
Ob Zufall oder schlicht Ausdruck des Terroirs – der hervorragende Pinot Noir mit seinen floralen und erdigen Noten trifft die Aromatik des Gerichts auf den Punkt.
Der nächste Gang ist ein weiteres Fleischgericht, was ich als willkommene Abwechslung zu vielerorts sehr fisch- und gemüselastigen Degustationsmenüs wahrnehme. Nichts gegen Letztere, doch dieses Menü zeichnet sich bislang durch eine erfreuliche Reihe von Überraschungen aus.
Es gibt Wagyu von der Masami Cattle Ranch aus dem Norden Kaliforniens – auch das eine ansprechende Abweichung vom japanischen Rind, das überall die Speisekarten ziert, und ein weiterer Beweis für die außergewöhnlichen Erzeugnisse, denen man in Kalifornien begegnet. Für ein Stück aus dem Filet ist das Fleisch bemerkenswert marmoriert; das Fleisch glänzt und duftet, der Gargrad ist perfekt rosé. Optisch sehr ansprechend ist das Fleisch, nebst verschiedenen Gemüsezubereitungen, an einer mittig angegossenen Sauce aus fermentierter Paprika angerichtet.
Das schmeckt alles hervorragend. Am Gaumen kommen das üppige, aromatische Fleisch, die erdenden Aromen von gegrillter Paprika und die weiteren, qualitativ exzellenten Gemüse zusammen. Als wäre das noch nicht genug, gibt es separat noch eine Scheibe Schinken desselben Tiers, bestrichen mit Öl von rosa Pfeffer und danach noch ein kleines Rippenstück am Spieß mit Magnolienöl und Meersalz. Herausragende Qualitäten, eine Reduktion aufs Wesentliche und eine belebende Schärfe machen auch diesen Teller zu einem Highlight. (8,5/10)
Vor den Desserts wird das Wasserglas gegen ein neues ausgetauscht. Dieser netten Geste begegnet man viel zu selten. Sie steht für ein Verständnis von Service, das über Routinen hinausgeht. Ein kleiner »Reset« zwischendurch.
Das erste Dessert hört auf »Texturen von Birne« und beinhaltet verschiedene Zubereitungen von Birne, Yuzu, Fingerlimette und Jasmin, von denen man auch Mochi, die kaubedürftige japanische Reissüßigkeit, hergestellt hat. Fruchtige, teils florale Aromen und unterschiedlich weiche Texturen ergeben ein frisches, aromatisches Dessert ohne größte Überraschungen. Sehr gut, nicht mehr, nicht weniger. (7/10)
Das nächste Dessert mutet an wie eine Variation von Petits Fours, doch die fünf Zubereitungen, die hier separat den Teller zieren, harmonieren perfekt. Ein »Toffee-Pudding« ist warm, weich und himmlisch karamellig-schokoladig, ein Schafsmilcheis erfrischt mit schlanker Säure und doch schwelgerischer Cremigkeit, und ein Püree aus »schwarzem Apfel« überzeugt mit fast fermentierten Noten. Eine Vanillecreme passt zu allem, und ein Gebäck aus Buchweizen bringt teigige Knusprigkeit. Auch hier ist nichts zu viel, nichts zu wenig ‒ jedes aromatische Detail ist wohlbedacht und genussbringend umgesetzt. Eine solche Präzision erlebt man nur in den allerbesten Restaurants. (9/10)
Die tatsächlich Petit Fours lasse ich mir einpacken ‒ gegen den Appetit am jetlagbedingt viel zu frühen Morgen hier.
Das Enclos verlasse ich überaus beeindruckt ‒ in seiner Klarheit, seinem Fokus auf Genuss und dem makellosen Handwerk. Dass Küchenchef Limoges es auch noch schafft, neben dem bemerkenswerten Terroir der Westküste ein bisschen in Richtung seiner Heimat zu winken ‒ ohne dabei nostalgisch zu werden ‒, zeigt, dass große Küche nicht laut werden muss, um Charakter zu haben. Sie kann heimatverbunden, weltoffen und präzise zugleich sein. Limoges gelingt all das mit einer Gelassenheit, die begeistert. Kaum zu glauben, dass man hier erst ganz am Anfang steht.