Tohru in der Schreiberei – Kapitel drei
Es ist fast wie beim letzten Mal in der Dienerstraße 20 in München. Schon mittags kehre ich ein, um in der Brasserie, die jetzt Bar Tatar heißt, mit ein paar Austern und weiteren Kleinigkeiten meinen Appetit zu lindern, nur, um nach einem kurzen Zwischenstopp im Hotel wieder zurückzukehren. Am Abend heißt es dann hinauf ins erste Obergeschoss, in Tohru Nakamuras Spitzenrestaurant, das seit neuestem ein dritter Michelin-Stern ziert.
Dass das Niveau in diese Richtung zeigte, schätzte ich bei meinem letzten Besuch auch so ein, weswegen ich dem Abend mit großer Vorfreude entgegensehe.
Das Menü liegt mit 320 € inzwischen auf deutschem Drei-Sterne-Niveau und klingt so appetitanregend wie beim letzten Mal. Spitzenzutaten und japanische Begriffe versprechen (aus dieser Hand) Hochgenuss. Die Weinauswahl steht auch recht schnell, wenngleich die Karte für ein Haus dieser Klasse durchaus mehr Umfang und Klasse vertragen könnte. Aber mit einem 2020er Chablis 1er Cru »Montée de Tonnerre« von der Domaine Jean-Paul & Benoit Droin (175 €) und einem 2018er Arbossar von Terroir al Limit aus dem Priorat (170 €) fühle ich mich gut aufgestellt.
Die erste Speise des Abends ist ein Dashi, klassisch gebrüht aus Kombualgen und Bonitoflocken, verfeinert mit Ozaki-Wagyu. Dadurch entsteht eine Art würzige Bouillon, bei der sich Salz und Umami perfekt ausbalancieren – schlicht, japanisch, wundervoll. (9/10)
Eine Auster der Sorte Irish Mór wurde für den nächsten Snack in ihrer Schale in glühender Holzkohle gegart und ist auf einer Sülze aus Austerndashi, Bohne und Kalbszunge serviert. Getoppt mit Bohnencreme, Shichimi und Myoga-Julienne begleitet eine aufgeschäumte, buttrige Sauce auf Basis von fermentiertem Holunder die mundgerecht präparierte Muschel. Blumige Aromen, feine Zitrusnoten und eine animierende Säure machen den Snack zu einem kleinen Meisterwerk. (10/10)
Als nächstes dient ein einseitig ausgebackenes Nori-Tempura als Basis für kurz angegrilltes, aber roh belassenes Ozaki-Wagyu aus Miyazaki. Dazu gesellen sich lauwarmer Räucheraal, eine milde Habanero-Chili aus Münchner Anbau, Kyoto-Lauchöl sowie Blüten und Kräuter. Die blumig-aromatische Chili balanciert das reichhaltige Eigenfett des Wagyu gekonnt aus, während das knusprige Noriblatt für Kontraste und Leichtigkeit sorgt. Auch der Aal mit seinen feinen Rauchnoten fügt sich stimmig in die Komposition ein. Hier passiert eine Menge – dass das dennoch so harmonisch bleibt, ist die große Kunst. (9/10)
Der nächste Gang zelebriert ein Produkt, das in unseren Breiten selten im Mittelpunkt steht: Reis. Die Sorte Koshihikari aus Niigata wurde hier wie Sushi-Reis gedämpft und mit hausgemachtem Krustentieressig abgeschmeckt. Darauf findet man leicht angegrillte Carabinero-Stückchen, Taglilien und eine cremige Safran-Kimizu. Eine aufgeschäumte Sauce aus Carabinero-Karkassen, Shiokoji, Butter, Crème fraîche und Sake – also eine Art japanische Beurre Blanc – bringt pikante Tiefe und sanfte Opulenz. Sie wird zum heimlichen Star des Tellers. Der Reis selbst bleibt leicht hinter meinen Erwartungen, da ihn eine etwas weichere Garung Körnigkeit kostet. Insgesamt dennoch sehr überzeugend. (8,5/10)
Es geht weiter mit »Münchener Burrata«. Der regionale Frischkäse ist zusammen mit einer Pistaziencreme zu einem voluminösen Ellipsoid geformt und mit Royal Belgian Caviar, gerösteten Pistazien und Kräutern getoppt. Das Ganze ruht in einer (recht stark angedickten) Vinaigrette mit Shiso-Kefir, Stördashi und Zucchini-Brunoise. À part gibt es noch ein Roggenbrot des Bäckers Arnd Erbel mit Zucchini, Stör-Rillette und japanischer Kräuterbutter.
Die Idee, ein schlichtes Vergnügen wie Burrata mit Brot und Vinaigrette auf ein höheres Niveau zu hieven, klingt in der Theorie schlüssig – in der Umsetzung bleibt der Gang aber seltsam indifferent. Die geschmacklich kaum greifbare Burrata ist sehr üppig portioniert, die dickliche Vinaigrette unklar im Ausdruck, der Kaviar geht unter, das Brot wirkt trocken und ohnehin eher wie ein Anhängsel. Das ist alles sehr aufwändig gearbeitet, doch man schmeckt mehr Fragezeichen als Zusammenhänge. Produkt-Highlights sucht man auch vergebens. Sehr merkwürdig. (6,9/10)
Ein Duo von Hamachi (Gelbschwanzmakrele) als Sashimi und Balfegó-Thunfisch als Tatar reißt das Ruder wieder herum. Die edlen Fische werden von einer gelierten Vinaigrette auf Basis eines Thunfisch-Dashis, verfeinert mit Ponzu, Gurke und Kapern, zusammengehalten. Hier überzeugt die Vinaigrette, da sie den Schmelz der Fische unterstreicht und eine schlanke, appetitanregende Säurestruktur aufweist. Kapernblätter und frischer Wasabi setzen weitere Akzente. Das ist eine mehr als gelungene Produktschau mit wohlüberlegten Kontrasten. (8/10)
Es geht weiter mit einem Chawanmushi. Der japanische Eierstich ist mit dünnen Tranchen von Saibling bedeckt, die durch die Restwärme noch leicht nachgaren. Der Fisch, aus Landsberg am Lech, dient auch als Basis für das Dashi, mit dem das Chawanmushi gegart wurde, sowie für eine Vinaigrette mit Smoky-Fish-Garum, die zusammen mit Saiblingskaviar und angegrillten Pfifferlingen das Topping bildet.
Mich haben Chawanmushi-Zubereitungen mit ihrer Zurückhaltung, Tiefe und eleganter Klarheit schon zu Tränen gerührt – dafür fehlt es dieser Version leider an einigen Parametern. Hier wirkt die Konsistenz leicht puddingartig, d. h. eine Nuance zu weich, und die Tiefe, die üblicherweise durch das Dashi erreicht wird, bleibt aus. Vor allem aber passen die Pfifferlinge nicht recht ins Bild, die mit ihren waldigen Aromen keinen Zusammenhang zu dem feinen Eierstich herstellen können. Das ist zweifellos auf hohem Niveau, doch die Verbindung von Ost und West gelingt hier nicht optimal, so feinfühlig das hier auch versucht wird. (7,5/10)
Der nächste Gang enthält ein kleines Stück Petersfisch, der sanft angebraten und mit Piment d’Espelette gewürzt ist. Der Fisch ruht auf einem mit Dillöl und einer Löwenzahn-Vinaigrette marinierten Fenchelsalat. Obenauf: geschmorter Fenchel, ein knuspriger Krupuk sowie ein Chutney aus fermentierten und angegrillten Aprikosen. Ergänzt ist das Ganze durch eine geklärte Buttermilch, aromatisiert mit gegrilltem Lorbeer.
Am Gaumen fällt sofort eine prägnante Säure auf, begleitet von einem salzigen Grundton und floralen Noten, die sich interessant einfügen. Das Spiel mit Salz und Säure bleibt aber ein wenig oberflächlich; aromatische Tiefe entsteht nicht. Letztlich fehlt es dem Gericht an einem charakterstarken Hauptdarsteller, den man gedanklich – und gustatorisch – mitnehmen kann. Der Gang ist auf hohem handwerklichen Niveau, technisch korrekt ausgeführt und durchaus lebendig, aber nicht nachhaltig. (7,5/10)
Der nächste Gang kombiniert kräftige und salzig-frische Aromen auf spannende Weise. Ein Stück Schweinekinn wurde in Shiokoji gebeizt und angebraten. Dazu kommen eingelegter und gehobelter Kohlrabi, Streifen von Tintenfisch sowie eine hausgemachte XO-Sauce. Für salzig-fruchtige Akzente sorgt Umeboshi, während eine mit Sojamilch aufgeschäumte Ramen-Bouillon alles zusammenhält. Letztere ist besonders gelungen – zitrusfrisch, säurebetont und umami-tief. Dazu gibt es Focaccia für die scarpetta – in letzter Zeit öfter Thema. Das ist ein hervorragender, aromatisch präsenter Gang mit einer starken Sauce. (8/10)
Als Hauptgang folgt ein Bruststück von der Burgaud-Ente aus der Vendée, vierzehn Tage gereift und angebraten. Das Keulenfleisch wurde zu einem Tagliolino verarbeitet: mit Algen im Teig, Hijiki (Beerentang) im Ragout, Crispy Nori und confiertem Kombu obenauf. Angerichtet ist alles auf sautiertem Mönchsbart, ergänzt um eine Entenessenz mit Liebstöckelöl. Das klingt anspruchsvoll komplex, doch leider bleibt der Genuss deutlich hinter meinen Erwartungen zurück. Die Entenbrust wirkt gummiartig, wie sous-vide gegart, geschmacklich leicht metallisch und aromatisch blass. Auch das Keulenraviolo gibt mit seiner wenig definierten, »bröseligen« Füllung Rätsel auf. Die Sauce bringt zwar pflanzliche Frische durch das Liebstöckelöl, kann aber die grundsätzlichen Schwächen nicht kaschieren. Hier macht es mir leider keine Freude, den Teller aufzuessen, was mich angesichts der recht starken Schwankungen dieses Menüs etwas irritiert. (6,5/10)
Als erstes Dessert wird ein luftiger Castella-Kuchen mit Douglasie serviert, darauf eine Crème pâtissière mit Den Miso, Fichtensprossen und Johannisbeeren. Begleitet ist der luftig-schaumige Kuchen von Genmaicha, einem Grüntee mit geröstetem Reis. Der Kuchen ist aromatisch waldig, mild und eher zurückhaltend – sehr gut, aber nichts, das man wiederholen müsste. (7/10)
Vor einem weiteren Dessert folgen noch verschiedene Petits Fours. Alle davon wecken Assoziationen an einen Waldspaziergang – von Maitake-Eiskonfekt in Schokolade über einen »Ast« aus Eichelmehl und Bucheckern bis hin zu Aromen von Marone, Johannisbeerholz und Zimt. Das bleibt auf sehr gutem Niveau. (7/10)
Zum Abschluss wird Kirsche ins Zentrum gerückt: eingelegt in Kirschsaft und -likör, gefüllt mit Piemonteser Haselnuss, begleitet von Avocado mit Verveine, Arhuaco-Schokoladencremeux und einem Eis aus schwarzer Sesampaste (Nerigoma). Die Sauce basiert auf dem Einlegefond der Kirschen und kombiniert ihn mit Saba, Pedro Ximénez und Pompona-Vanilleöl. Trotz aufwändiger Komposition will sich hier, wie schon öfter heute, kein stimmiges Gesamtbild einstellen. Das Kirscharoma wirkt plakativ, das Eis bringt getreidige, fast mehlig wirkende Noten ein, und es ist schwer nachvollziehbar, womit man hier, trotz allen Aufwands, begeistern möchte. (6,9/10)
Trotz aller Schwankungen: Tohru in der Schreiberei bleibt ein außergewöhnlicher Ort, an den ich gerne zurückkehre. Hier wird mit technischer Präzision, großer ästhetischer Sorgfalt und beeindruckendem Ideenreichtum gearbeitet. Dabei fallen auch mal Späne – heute Abend allerdings mehr als sonst aus Nakamuras Hand gewohnt. Aber das ist eben Teil der Geschichte, die man hier schreibt. Und die ist längst nicht zu Ende erzählt.