Tourniert: in Hamburg, zurück zum Tagesgeschäft

Das über Monate fest auf dem Kiez installierte Pop-up Nullkommaeins ist inzwischen Geschichte und war in Hamburgs Gastroszene eingeschlagen wie eine Bombe. Dabei ist hier eine Differenzierung wichtig, denn es ist in einer Szene eingeschlagen, von der ich nicht einmal wusste, dass sie hier (in nennenswerter Größe) existiert.

Weinfreaks, Kleine-Gerichte-zum-Teilen-Liebhaber, Flaschen-statt-Gläser-Trinker, Champagner-statt-Grauburgunder-Beste-Freundinnen, Bring-your-own-Mitbringer, Zalto-Schwenker, Einmal-alles-für-den-Tisch-statt-jeder-für-sich-Besteller, Ich-esse-alles-Esser. Kein Wunder, dass ich von dieser Klientel nichts wusste, denn nach dem Nullkommaeins ist vor dem Nullkommaeins – und das heißt: niemand weiß wieder so richtig, wo er oder sie hingehen soll. Man verteilt sich also wieder auf einige bewährte Läden, mal mehr, mal weniger begeistert.

Es folgen ein paar Updates und lose Gedanken aus meinen letzten Wochen in Hamburg, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

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Edelitaliener

So etwas funktioniert in Hamburg besser als alles andere: Schickimicki-»Edelitaliener« mit banaler Speisekarte (Trüffelpasta, anyone?), aber instagrammable Atmosphäre und Gästen. Auf den Tischen liegen neben Zigarettenschachteln gerne Autoschlüssel von Lamborghini-SUVs und AMG-Mercedes – mit genügend verdünntem Prosecco bleibt man ohnehin nüchtern. Ich meide solche Läden, weil es dort ohnehin nie um Kulinarisches geht; daher war ich auch noch nie im Edmondo oder Pellicano. Aber man wundert sich, wie gut so etwas immer wieder in der Hansestadt funktioniert. Es ist ein Armutszeugnis.

Ein Restaurant, das ein bisschen – aber eben nicht ganz – in diese Kerbe schlägt, habe ich kürzlich dennoch besucht: die Osteria Due. Das Lokal gehört zum Luxushotel The Fontenay und ist ein Tribut an ein gleichnamiges Traditionslokal, das lange Zeit fast an selber Stelle existierte und im schicken Viertel Pöseldorf eine große Stammklientel hatte. Ich war auch mal dort, mit den reichen Eltern meines besten Schulfreundes – die gingen immer gerne dahin –, aber das ist über dreißig Jahre her.

Ein lauer Sommerabend verspricht nun auf der Terrasse der neuen Osteria gut anzufangen, doch die desaströse Weinkarte und ein unachtsam transportiertes und auf den Tisch geknalltes Tablett mit übergelaufenem, zähflüssig-süßlichem Gemüse-Dip samt Ciabatta sagen dann auch schon fast alles, was man hier wissen muss.

Die zart gegrillten Calamaretti mit Zitrone (24 €) und ein Vitello Tonnato (24 €) sind anstandslos essbar – knapp fünfzig Euro sind dann aber schon weg.

Um die Kulisse zu wechseln – draußen ist es nämlich ganz besonders charakterlos –, ziehe ich irgendwann nach drinnen um. Viel los ist hier nicht, und wenn doch, sitzt man lieber weiter weg.

Spaghetti »Aglio, Olio e Peperoncino« (20 €) sind akzeptabel; ein Tomatensalat (15 €) mit in der Speisekarte tatsächlich erwähntem »altem Balsamico und Olivenöl extra vergine«, als sei das irgendetwas Besonderes, schmeckt nach nichts.

Die gebratene Kalbsleber mit Salbeibutter, Kartoffelpüree und mit viel Ungeduld geschmorter Tropea-Zwiebel (29 €) gibt mir auch nichts außer dem Impuls, schnell zu gehen. Dass hier mit Jochen Kempf im Übrigen ein ehemaliger Sternekoch am Herd steht, macht einen ratlos.

Als großer Freund von guter Küche, gutem Wein, Lässigkeit und Gastfreundschaft habe ich mich lange nicht so fehl am Platz gefühlt.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Osteria Due (→ Website)
Chef de Cuisine: Jochen Kempf
Ort: Hamburg, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 10.07.2025
Guide Michelin (Deutschland 2025):
Meine Bewertung dieses Essens: 6 (Was bedeutet das?)
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Kiosque

Ohne das Nullkommaeins ist das Kiosque wieder konkurrenzlos – das Nullkommazwei sozusagen, obwohl es zuerst da war. Fabio Haebels einstige Bäckerei hat sich in nur wenigen Jahren in eines der pulsierendsten und angesagtesten Restaurants der Stadt verwandelt.

Man kocht hier inzwischen weitestgehend italienisch und meint das durchaus ernst. Die häufig wechselnde Speisekarte hat schon das mühelos beste Vitello Tonnato der Stadt hervorgebracht – leicht kühl temperiert, mit rosa (statt grauem) Fleisch, schlanker Säure und federleichter Sauce. Die vom New Yorker Carbone inspirierten Vodka-Rigatoni (16 €) stillen Fernweh, und Sommelier Jonas führt inzwischen eine der lässigsten Weinkarten der Stadt, von Cidre bis Clos Rougeard. Längst mein zweites Wohnzimmer.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Kiosque (→ Website)
Chef de Cuisine: Philipp Albrecht
Ort: Hamburg, Deutschland
Datum dieser Besuche: Diverse
Guide Michelin (Deutschland 2025):
Meine Bewertung dieser Essen: Speisen 6,56,9 (Was bedeutet das?)
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Koer

Das Koer ist ein recht neues Nachbarschaftsrestaurant im Hamburger Stadtteil Winterhude. Das Konzept klingt ein bisschen so, als hätte man sich in vieler Hinsicht nicht entscheiden können: Es gibt eine Bar, ein Restaurant, ein Carte-blanche-Menü mit flexibler Gänge-Anzahl, optionale Add-ons und Speisen à la carte. Doch die Vielfalt ist Konzept: Köör bedeutet auf Plattdeutsch so etwas wie Auswahl. Das scheint, gerade hier im Viertel, aufzugehen. Der Laden ist an diesem lauen Freitagabend im Juli komplett ausgebucht.

Ein Michelin-Stern leuchtet hier auch seit Neuestem, was spannend ist, weil man die Winterhuder Klientel nun damit überraschen kann, dass Michelin-Sterne nichts mit steifem Service oder gestärkten Tischdecken zu tun haben.

Das Menü, das ich probiere (128 €), beginnt mit filigran gearbeiteten Petitessen wie einer Croustade mit kleinen Pilzen und Buchweizen (7/10) oder einem Zwiebelkuchen-Churro mit Schalottencreme und (sehr intensiver) Fenchelblüte (7/10).

Als Add-on bestellte Austern aus Zeeland mit Schwarzbrot und Chili treffen den richtigen Ton zwischen edel und zünftig – schön mit etwas Schärfe (7/10).

Im weiteren Verlauf spielt ein Gericht mit Matjes, Johannisbeeren, Schmand und Gurke charmant mit norddeutschen Aromen, übertreibt es aber etwas mit Säure und Bitterkeit (6,9/10). Ein Erbsenflan mit Erbsen, Erbsensud, Pfifferlingen, Holunderblüten arbeitet zwar passend mit Kaviar gegen die dominierende Süße an, aber die Zutaten schmecken alle blass – trotz der schönen Optik (6,5/10).

Auch ein Flank Steak vom hessischen Wagyu meint es gut, aber der an sich appetitliche Schnitt kann sich gegen die süße Begleitung mit Haselnuss-Selleriepüree und Barbecue-Sauce – bei fehlendem Salz – nicht durchsetzen (6,5/10). Ein Fischbrötchen mit Wels ist danach wieder besser – knusprig, abermals recht süß, aber hier mit souveräner Würze bei ansprechender Feinheit (7/10).

So pendelt das Menü zwischen Gutem und sehr Gutem, man fragt sich zuweilen aber, warum man es sich so kompliziert macht. Der Funke springt daher nicht so ganz über. Manchmal reicht ja schon ein einziger.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Koer (→ Website)
Chef de Cuisine: Paul Decker
Ort: Hamburg, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 25.07.2025
Guide Michelin (Deutschland 2025): *
Meine Bewertung dieses Essens: 6,9 (Was bedeutet das?)
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100/200 Kitchen

Das eigenständigste Spitzenrestaurant der Stadt schmückt sich inzwischen demonstrativ mit drei goldenen Michelin-Sternen aus Eigenproduktion – einem fürs A-la-carte-Restaurant Glorie, zwei fürs 100/200 – sowie zwei »grünen Sternen«, allesamt unübersehbar am Eingang neben den echten Plaketten angebracht.

Der »grüne Stern« beim 100/200 wirkt dabei fast wie ein Platzhalter für einen dritten Michelin-Stern.

Man darf hier ruhig so souverän sein, denn die höchst eigenständige Küche von Thomas Imbusch ist immer mindestens hervorragend. Heute Abend wird mit »Die Saison« das vegetarische Menü serviert (175 €), dessen Zielgruppe weniger Vegetarier sein dürften als Genussmenschen jedweder Couleur.

Ein Stück Artischockentarte mit Lorbeereis und regionalen, mit Estragonöl marinierten Tomaten schmeckt leicht weihnachtlich, süß und umami zugleich – so etwas hat man noch nicht probiert. (8,9/10)

Ein Gang namens »Bohne und Brot«, bestehend aus einer aufgemixten Suppe mit Bohnen und knusprigem, »übersäuertem« Brot, spielt einfallsreich und souverän mit ganz Bodenständigem. Kontrastreiche Texturen, starke Akzente und das eindringliche Bild des Vertrauten lassen hier ganz gewöhnlich erscheinende Zutaten in einem neuen Licht erstrahlen. Ganz groß. (9/10)

Auch ein knusprig gegrillter Kräuterseitling, der mit regelrecht psychedelischen Strichen aus grüner Pistazien- und roter Paprikasauce in Szene gesetzt wurde, ersetzt in diesem vegetarischen Menü (»Die Saison«) mühelos jeden Fleischgang. (8/10)

Und wer dann trotzdem noch Lust auf ein Steak hat, bestellt noch ein zwanzig Tage gereiftes Zwischenrippenstück aus der Nordheide, knusprig gegrillt in der Edelstahlpfanne im Molteni-Ofen – dazu ein feiner Kräutersalat (85 €). Das Fleisch schmeckt nach Gras und Weiden und führt jedwede Diskussion über Gargrade ad absurdum – hier geht es nur um Geschmack und Qualität. (7/10)

Kühn, tiefgründig und atmosphärisch: Die spannendste Küche Hamburgs gibt es weiterhin in Rothenburgsort, neben Autobahnauffahrt und Elbtower-Ruine.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: 100/200 Kitchen (→ Website)
Chef de Cuisine: Thomas Imbusch
Ort: Hamburg, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 05.09.2025
Guide Michelin (Deutschland 2025): **
Meine Bewertung dieses Essens: 8 (Was bedeutet das?)
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Haerlin

Das festlich-elegante Drei-Sterne-Restaurant im Fairmont Hotel Vier Jahreszeiten zieht auch drei Monate nach meinem vergangenen Besuch alle Register einer Bewirtung der Spitzenklasse.

Meinen gewohnten Sitzplatz am Sommelier-Hochtisch habe ich an diesem Samstagabend gegen einen regulären Tisch am Fenster mit Alsterblick eingetauscht, eine willkommene Abwechslung und gleich ein luxuriöseres Gefühl.

Die Küche des eingespielten Duos Christoph Rüffer und Tobias Günther – und deren Team – bringt im aktuellen Menü solche Highlights hervor wie, als Teil der Einstimmungen, ein quaderförmiges Stück mageren Thunfisch (Akami) von hervorragender Qualität, das durch einen Soja-Aal-Lack eine Art glänzende Transparenz bekommt. Eine Nocke Imperial-Kaviar bringt dazu einen Hauch Salz – das dürfte fast mehr sein –, und ein Kürbiskernchip »sandige« Knusprigkeit, die das maritime Bild komplettiert. (9/10)

Eine gegrillte Gillardeau-Auster mit Zucchini und grünem Meerrettichschaum ist auch hervorragend, aber das Motiv (»Auster mit Grünem«) wirkt gealtert. Der texturell wenig ansprechende Schaum setzt diesem Eindruck auch nichts entgegen – dennoch bleiben nur hervorragende Qualität und einwandfreies Handwerk festzustellen. (8/10)

Weitere Highlights des Menüs sind eine – optional bestellbare – Ratatouille »en croûte« mit fabelhaften Tomaten, säuerlich-süffiger Sardellen-Kapern-Mayonnaise, Burrata-Creme und warmer Kräutersabayon. Ein servierter Tomaten-Cocktail dazu besticht mit viel Umami und komprimierten sommerlichen Aromen. Dass Daniel Calvert aus dem Tokioter Sézanne schon lange eine fast identische Tarte als Signature-Gericht serviert, werden jetzt mehr Gäste hier feststellen, die der drei Sterne wegen Tausende Kilometer fliegen – da sollte man vielleicht etwas umsichtiger agieren. Das Gericht ist jedenfalls traumhaft, ob hier oder in Tokio. (9/10)

Von den Gängen, die folgen, sind alle mindestens hervorragend, und man könnte sich fragen: Was will man mehr? Das i-Tüpfelchen an Ausnahmequalität und hier und da etwas mehr Kontrolle der Garpunkte könnte eine Antwort sein.

Die Patisserie ist derzeit die mit Abstand beste der Stadt: kreativ, überraschend und schlaraffenlandartig köstlich. Dazu noch die Weinkarte mit erlesenen Tropfen (William Kelley! Armand Rousseau!), die der professionelle Service immer perfekt im Griff hat, ein obligatorischer Besuch von Restaurantleiter und Bruder im Geiste Matthias Förster aus dem Nikkei Nine ein Stockwerk tiefer, und der Abend ist gerettet.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Haerlin (→ Website)
Chef de Cuisine: Christoph Rüffer
Ort: Hamburg, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 13.09.2025
Guide Michelin (Deutschland 2025): ***
Meine Bewertung dieses Essens: 8,9 (Was bedeutet das?)
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